Schweigenetz
Wende abgebrochen und wärest du möglicherweise hierhergekommen, um nach mir zu suchen, wäre der ganze Schwindel aufgeflogen und das Netz schnell auf meine und damit auf die Spur der Dokumente gekommen. Der Fall, der eingetreten ist, als Nawatzki dich schließlich hierher schickte, bestätigt das.«
»Dann wurden die Briefe also weiterhin von einem anderen geschrieben?«
»Ja. Es gelang uns, diejenige ausfindig zu machen, die die ganzen Jahre über den Kontakt zu dir aufrechterhalten hatte, eine alte Frau, der der Briefwechsel großen Spaß machte. Wir mussten ihr nicht einmal Geld bieten, damit sie weiterhin in meine Rolle schlüpfte. Sie hat es gerne getan.«
»Zuletzt kamen die Briefe immer seltener.«
Sandra zuckte mit den Schultern. »Die Frau war sehr alt. Vielleicht wollte sie den Briefkontakt langsam auslaufen lassen. So, dass du keinen Verdacht schöpfen konntest.«
Er schüttelte den Kopf. »Das alles klingt unglaublich.«
»Aber logisch.«
Er schwieg. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er sah Sandra an und versuchte noch einmal, das junge Mädchen in ihr wiederzuerkennen, in das er einst so verliebt gewesen war. Er erinnerte sich an ihre Pirouetten auf dem gefrorenen See, an ihre gleitenden Bewegungen auf dem Eis, daran, wie sie ihn ganz allein nach Hause geschleppt und dafür Schläge eingesteckt hatte. Vor seinen Augen flimmerten die ersten scheuen Küsse vorüber, ihre erste gemeinsame Nacht. Sie hatte noch dasselbe glatte dunkle Haar, die langen Wimpern und die grün schimmernden Augen. Wenn sie lächelte, erschienen dieselben Grübchen in ihren Wangen, und immer noch war ihre Haut so auffällig hell, fast als wäre sie aus Porzellan.
Und doch war alles anders. Er liebte sie nicht mehr. Es war vorbei.
Er hätte nicht beschreiben können, woran es lag. Ob an ihrem befehlsgewohnten Auftreten im Kloster, an ihrem Handeln, das sie Auftrag nannte, oder einfach an der Tatsache, dass Nina in sein Leben getreten war und nur wenige Schritte entfernt im Turm auf ihn wartete – er wusste es nicht.
Sandra entband ihn von der Last, weiter darüber nachzudenken. »Ich glaube, Fenn hat dir einmal versprochen, dich über die Hintergründe der Dokumente aufzuklären. Wir wär's, wenn ich das übernehme?«
Er nickte stumm.
Sie schenkte ihm ein Lächeln, das verriet, wie genau sie wusste, was gerade in ihm vorging. Das, was sie sagte, war sowohl Ablenkung als auch Aufklärung. »Hast du je von der Berliner Normannenstraße gehört?«
»Das Hauptquartier der Staatssicherheit.«
»Genau. Kurz nach dem Fall der Mauer stürmte eine aufgebrachte Menge das Gebäude und stieß dabei auf riesige Mengen von Akten und Unterlagen des Mfs, die meisten davon auf Disketten gespeichert. Bundesnachrichtendienst und Schweigenetz wussten, dass die Staatssicherheit Informationen besaß, deren Aufdeckung ihnen nachhaltig schaden würde. Sie schleusten ihre Mitarbeiter unter die Demonstranten, die in der allgemeinen Aufregung und mithilfe einiger ehemaliger Mfs-Leute die betreffenden Dateien ausfindig machten und vernichteten. Genauso erging es unzähligen Akten über Einzelpersonen, internationale Transaktionen et cetera. Wahrscheinlich hatte jede wichtige Organisation der Bundesrepublik und natürlich auch unsere Seite ihre Spitzel in der stürmenden Meute, um innerhalb des Trubels bestimmte Papiere und Disketten verschwinden zu lassen. Daraus macht mittlerweile kaum noch jemand ein Geheimnis.«
»Aber ihr habt doch die ganze Zeit von Dokumenten gesprochen, nicht von Disketten.«
»Eben deshalb. Die Disketten wurden vernichtet. Nicht aber die Akten, die ihnen zugrunde lagen. Die nämlich wurden zu diesem Zeitpunkt bereits an einem ganz anderen Ort gelagert.« Sie lächelte und wirkte dabei fast ein wenig mädchenhaft. »Du weißt, dass die technischen Errungenschaften der DDR weit hinter den euren zurücklagen. Es ist noch nicht allzu lange her, dass die gesamte Datenerfassung und -verarbeitung des Mfs auf Computer umgestellt wurde. In monatelanger Arbeit wurden die wichtigsten Unterlagen in Dateien übertragen und die Originalpapiere vernichtet. Die Akten über das Schweigenetz waren kurz vor dem Umsturz von der EDV erfasst worden, die zugrundeliegenden Dokumente warteten in einem Lastwagen auf ihren Abtransport zur Verbrennung. Wir sprechen hier nicht von zwei oder drei Ordnern, sondern von nahezu vierhundert Bänden, die einen Großteil aller Aktionen des Netzes und seine Verbindungen zum BND
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