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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Gedanke in Nadines Kopf umher wie ein bösartiges Insekt. Sie hatte daran gedacht, während sie aus der Kirche entkommen war, später, als sie in Prag wieder auf die Reste von Nawatzkis Truppe stieß, und sie dachte heute daran, während sie auf dem Beifahrersitz des Geländewagens durch die Wälder wippte. Heute mehr denn je.
    Niklas ist tot.
    Sie wusste nicht, wer es seiner Familie beibringen würde. Wahrscheinlich würden sie seiner Frau kurz und formell mitteilen, es habe während des Manövers einen Unfall gegeben. Ein Wagen, über den jemand die Kontrolle verloren hatte, vielleicht eine scharfe Granate, die er nicht eilig genug fortgeworfen hatte. Sie würden die Schuld an seinem Tod ihm selbst zuweisen, damit niemand auf die Idee käme, den Vorfall genauer zu verfolgen. Wahrscheinlich würde man ihm, um die Farce perfekt zu machen, eine Flagge in den Sarg stecken.
    Sie hatte gedacht, sie sei längst darüber hinweg, andere zu beweinen. So stark, so kalt. Aber das war ein Trugschluss, eine Lüge ihr selbst gegenüber. Sie hatte eine Nacht lang Tränen für ihn vergossen, acht lange Stunden, in denen sie sich selbst mit Zweifeln und Schuldzuweisungen quälte. Bis ihr am Morgen klar wurde, dass nicht sie diejenige war, die Niklas' Tod zu verantworten hatte. Das war eine andere.
    Trotzdem hätte sie die Zeichen deuten müssen. Niklas war während des ganzen Einsatzes übermäßig nervös gewesen. Die Kritik von Rochus und Tomas war nicht ungerechtfertigt. Niklas hatte abgebaut, und keiner hatte das besser gewusst als sie. Vielleicht nicht einmal er selbst. Sie hätte einschreiten, sein Verhalten melden müssen. Dann wäre er noch am Leben.
    »Verdammt, pass mit dem Ding auf!«, fluchte Rochus hinter ihr. Tomas, der Scharfschütze, schraubte neben ihm sein Präzisionsgewehr zusammen. Er sparte sich eine Erwiderung.
    Nadine ertappte sich dabei, wie sie insgeheim auch den beiden einen Teil der Schuld zuschob. Als man sie brauchte, waren sie nicht da gewesen. Man hatte nur sie selbst und Niklas nach Prag abkommandiert. Ein Fehler an höchster Stelle. Womit sie beim nächsten Schuldigen war, bei Nawatzki.
    »Wie weit ist es noch?«, fragte Michaelis. Er hatte Mühe, bei dem Gerumpel das Steuer ruhig zu halten.
    Nadine blickte auf die Karte aus alten Beständen der Volksarmee und suchte in dem Wirrwarr aus Linien und Farbfeldern das Wachturmsymbol. »Zwei Kilometer ungefähr«, sagte sie.
    Hinter ihnen fuhr ein zweiter Wagen. Darin saßen fünf Männer, bewaffnet, instruiert. Genug für das, was sie vorhatten.
    Das Versteck ausfindig zu machen war letztlich weniger schwierig gewesen, als sie angenommen hatten. Einer von Fenns Kontaktleuten in Berlin hatte geredet. Er hatte nicht gewusst, wo die Gruppe sich aufhielt, hatte aber einige Wochen zuvor in Fenns Auftrag einige Details über den Turm aus alten Unterlagen gezogen. Stromversorgung, ein paar Pläne, Informationen über die Umgebung.
    Wenn sie schon früher auf diesen Mann gestoßen wären, nur ein oder zwei Wochen, wäre Niklas nicht tot.
    Dies alles war immer nur eine Frage der Zeit gewesen. Fenn hätte niemals gewinnen können.
    Ein paar Minuten später gab Michaelis dem Wagen hinter ihnen ein Zeichen und hielt an. Weder er noch der andere Fahrer machten sich die Mühe, ihre Fahrzeuge an den Rand zu lenken. Kein anderer Wagen würde den schmalen Hohlweg jetzt noch passieren können.
    Die Fichten und das Unterholz schluckten das Tageslicht und verwandelten den Wald in einen finsteren Irrgarten. Der Regen, der schon vor einigen Stunden begonnen hatte, wurde heftiger und peitschte die oberen Äste. Schon nach wenigen Augenblicken perlten Rinnsale aus den Baumkronen zur Erde wie Spinnenfäden aus Kristall.
    Es war nicht nötig, dass sie ihr Vorgehen noch einmal absprachen. Sie kontrollierten ein letztes Mal ihre Waffen, verteilten sich und verschmolzen in einer weiten Linie mit den Schatten der Bäume.
    Das Netz schloss seine Maschen.
    Der Regen trommelte fast horizontal und mit unbändiger Gewalt gegen die Scheiben der Sichtkanzel. Fenn hockte hinter der hüfthohen Ummauerung und starrte angestrengt durch einen Feldstecher hinaus zum Waldrand. Carsten fragte sich, wie er durch die wässrigen Schlieren etwas erkennen konnte.
    »Wie viele sind es?«, rief Sandra von unten durch den Treppenschacht.
    »Schwer zu sagen«, murmelte Fenn. »Ich sehe bisher sieben oder acht. Eine Frau ist dabei. Und Michaelis.«
    »Rote Haare?«, fragte Carsten. Er half Hagen in gebückter

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