Schweigenetz
völlig verstopft.« Sie hatte blondes Haar, das unterhalb ihres Nackens gerade abgeschnitten war. Dunkle Spitzen verrieten, dass sie es bis vor kurzem gefärbt getragen hatte. Ihre fein geschnittenen Züge wirkten ausdrucksvoll; ein hübsches, entschlossenes Gesicht. Sie war mittelgroß, schlank und trug Jeans. Ein weites, pastellfarbenes Sweatshirt reichte bis hinab auf ihre schmalen Oberschenkel. Lange, bronzefarbene Ohrringe, die aussahen wie die Abschlussarbeit eines Kunststudenten, baumelten bis auf ihre Schultern. Als sie sein Lächeln endlich erwiderte, blitzten ihre Zähne wie Porzellan. Sie war ein attraktives Mädchen, und er sah ihr an, dass sie das wusste. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Ihr Freund – so es denn einen gab – war Student, nahm er an. Sie sah nicht aus, als schliefe sie mit Journalisten.
»Warten Sie einen Augenblick«, bat sie, »ich sage Herrn Michaelis Bescheid.« Sie wandte sich von ihm ab und durchquerte ohne übertriebene Eile den Raum. Carsten sah ihr anerkennend hinterher.
»Schauen Sie ruhig«, sagte eine Stimme neben seinem rechten Ohr. Ertappt fuhr er herum und blickte in das Lächeln eines älteren Mannes, der bei seinem Eintreten aufgeschaut hatte und mit einem Mal neben ihm stand. Sein Gesicht war leicht gerötet, die kurzen Haare grau. »Nina ist jeden Blick wert«, ergänzte er. Er roch nach Alkohol.
Seine plumpe Vertraulichkeit verblüffte und ärgerte Carsten. Er ging auf Distanz. »Carsten Worthmann«, stellte er sich vor, ohne auf die Bemerkung einzugehen.
Der Mann ergriff seine Hand. »Manfred Ehrlicher. Leiter des Sport-Ressorts. Das Ressort bin ich selbst.« Er grinste, und Carsten quittierte es mit einem gepressten Lächeln. Ehrlicher wollte etwas sagen, als die Sekretärin – Nina – zurückkam, den Sportredakteur keines Blickes würdigte und Carsten bat, ihr zu folgen. Er war froh, dass sie ihn aus dem Dunstkreis des Mannes befreite.
Ralph Michaelis erwartete ihn in der Tür seines Büros. Er hatte ein breites, freundliches Lächeln und aufgeweckte Augen. Carsten ergriff seine ausgestreckte Hand und ließ sich kräftig durchschütteln. Michaelis mochte die vierzig knapp überschritten haben, aber sein Gesicht wirkte zehn Jahre jünger. Er hatte sich das braune Haar zu einem Bürstenhaarschnitt stutzen lassen, und seine Augen leuchteten im hellsten Blau, das Carsten je gesehen hatte. Er hatte in etwa seine Größe, wirkte aber breiter, kräftiger. Carsten mochte ihn auf Anhieb.
»Kommen Sie rein«, sagte er und bot ihm einen unbequemen Metallstuhl vor dem Schreibtisch an. Nina blieb draußen und schloss die Tür.
Michaelis nahm Platz und deutete auf eine Thermoskanne neben dem Telefon. »Der ist ganz frisch. Möchten Sie welchen?«
»Gerne.«
Aus einem Fach seines Schreibtischs zog Michaelis eine Tasse mit Pumuckl-Aufdruck, füllte sie mit dampfendem Kaffee und reichte sie Carsten.
»Danke.«
Während der Redaktionsleiter sich selbst einschenkte, bemerkte Carsten auf dem Schreibtisch ein gerahmtes Foto. Eine dunkelhaarige Frau und ein kleiner Junge mit runder Nickelbrille. Eine hübsche Frau, ein hübsches Kind.
Michaelis bemerkte seinen Blick. »Sie sind beide in Nürnberg und warten darauf, dass Vati sie am Wochenende besucht. Das sage ich Ihnen gleich als Erstes: Wenn Sie Familie haben, bleiben Sie in Frankfurt. Ich selbst würde das nicht noch einmal mitmachen. Sind Sie verheiratet?«
»Nein.«
»Ein Glück. Beste Voraussetzungen für einen Konquistadoren.« Michaelis grinste. »Glauben Sie mir, die Familie für solch einen Job auseinanderzureißen ist ein erbärmlicher Tausch.«
»Wie lange sind Sie schon hier?«
»Knapp drei Jahre. Seit das Schild draußen über der Tür hängt. Ein Mann der ersten Stunde, sozusagen. Übrigens nichts, worauf man besonders stolz sein müsste. Es haut einem nur die eigene Käuflichkeit um die Ohren.«
»Wie viele Kollegen aus dem Westen arbeiten hier?«
»Derzeit zwei. Jetzt kennen Sie beide.«
Carsten rümpfte unmerklich die Nase. Michaelis zuckte mit den Schultern. »Jeder hat seine eigene Art, damit fertig zu werden. Ehrlicher ist ein hervorragender Sportjournalist. Sagen wir, ein solider.«
»Die anderen stammen alle noch vom alten Klassenkämpfer?«
»Die meisten. Dazu kommt ein Quereinsteiger, der vor der Wende wahrscheinlich nicht mal Zeitungen gelesen hat. Und Nina, natürlich. Soweit ich weiß, wollte sie Kindergärtnerin werden, bevor sie zu uns kam.« Er lächelte. »Das dürfte als
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