Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Briefkästen hing neben der Tür, und ehe er den Lichtschalter fand, wäre Carsten fast über einen abgestellten Kinderwagen mit zerrissenem Polster gestolpert. Er konnte keine Ratten entdecken, war aber ziemlich sicher, dass es welche gab; vor allem, als er die dunkle Kellertreppe hinabsah und entdeckte, dass irgendjemand ein halbes Dutzend geplatzter Mülltüten hinuntergeworfen hatte.
    Die Verlagswohnung befand sich in der ersten Etage. Als er die hohe Doppeltür aufschloss, weinte das Kind im dritten Stock noch immer.
    Er trat in einen langen Korridor, von dem vier Türen abzweigten. Die eine, am Ende des Gangs, stand offen und führte in eine geräumige Küche. Hinter den beiden anderen lagen ein riesiger Wohnraum, ein halb so großes Schlafzimmer und ein winziges Bad. Er hatte befürchtet, sich im Treppenhaus eine Toilette mit seinen Mitmietern teilen zu müssen; jetzt sah er mit einem Aufatmen, dass seine Sorge unbegründet war. Es gab sowohl Klosett als auch Dusche. Alles schien erst kürzlich gereinigt worden zu sein.
    Das Wohnzimmer hatte man mit einer geschmacklosen, beigebraunen Blumentapete gestraft. Es gab eine schwarze Ledercouch, eine kleine Kompaktanlage und ein Fernsehgerät. Keine weiteren Möbel. Im Schlafzimmer fand er ein frischbezogenes Bett und einen leeren Kleiderschrank, der einem Antiquitätenhändler vielleicht ein paar Hunderter Wert gewesen wäre.
    Carsten warf seine Tasche in eine Ecke, streckte sich auf dem Bett aus und dachte wehmütig an die Behaglichkeit von Elisabeths Villa.
    Zweieinhalb Stunden später hörte das Kind auf zu schreien.
    Martin hatte gerade den Player gestoppt und packte seine Sachen, um nach Hause zu gehen, als von Heiden ihn hinauf in sein Büro rief. Als er eintrat, saß der Verlagsleiter mit ernster Miene am Schreibtisch. Nawatzki stand an der Fensterfront und starrte hinaus in die Nacht. Er drehte sich erst um, als Martin bereits Platz genommen hatte.
    »Ich bin überrascht, Sie so spät noch im Büro zu sehen«, sagte Martin. Es war weit nach zweiundzwanzig Uhr. Bislang hatte er angenommen, dass in der Geschäftsleitung normale Bürostunden galten. Es wunderte ihn, von Heiden und seinen Stellvertreter um diese Zeit noch im Verlag anzutreffen.
    »Nicht nur Journalisten machen Überstunden«, erklärte von Heiden. Nawatzki regte sich nicht.
    Martin wartete einen Moment lang darauf, dass einer der beiden ihr Anliegen vorbrachte. Als keiner es tat, fragte er: »Warum wollten Sie mich sprechen?« Er machte keinen Hehl daraus, dass er eigentlich längst zu Hause sein wollte. Er hatte Frank versprochen, mit ihm zur Eröffnung eines neuen portugiesischen Restaurants zu gehen.
    »Was denken Sie, wie er sich entscheiden wird?«, fragte von Heiden.
    Die Frage kam überraschend. »Carsten?«
    »Herr Worthmann, ganz richtig.« Das war Nawatzki.
    Hätten Sie ihn das nicht auch am Nachmittag fragen können? Er hatte Carsten zuletzt vor drei Jahren getroffen. Vor Heidelberg. Wie konnte er wissen, wie sehr ihn die ganze Sache wirklich verändert hatte.
    Von Heiden schien seine Gedanken zu lesen. »Es ist mir klar, dass Sie keine hundertprozentige Prognose abgeben können. Ich lege lediglich Wert auf Ihre Meinung.«
    Martin hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er ehrlich. »Herr Worthmann und ich haben uns lange nicht mehr gesehen. Früher hätte ich angenommen, er würde umgehend zusagen. Heute könnten die Dinge ein wenig anders liegen.«
    »Es ist uns sehr wichtig, dass Ihr Freund für uns arbeitet.«
    »Das freut mich für ihn.«
    Nawatzki versuchte ein freundliches Lächeln. »Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie ein wenig auf ihn, nun, sagen wir, einwirken könnten.«
    Himmel, sie mussten wirklich viel von Carstens Fähigkeiten halten.
    »Ich weiß nicht, wie er sich entscheiden wird. Er schien mir ein wenig … unentschlossen. Nach allem, was geschehen ist, kann man ihm das kaum verübeln.«
    Von Heiden seufzte. »Natürlich nicht. Aber eine geregelte Arbeit mit geregeltem Einkommen kann ihm schwerlich schaden.«
    »Das ist genau das, was auch ich ihm gesagt habe. Ich dachte, er würde das einsehen.«
    »Und, hat er es eingesehen?«
    »Ich bin mir nicht sicher. Er ist hin und hergerissen zwischen dem bequemen, aber unausgefüllten Leben, das er im Moment führt, und den neuen Dingen, die ihn bei uns erwarten könnten.«
    »Nicht die schlechteste Grundlage für eine positive Entscheidung«, bemerkte Nawatzki.
    »Sicher«, stimmte Martin zu. »Darf ich fragen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher