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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Zauns hindurch und zögerte. Sie hatte ihr langes Haar unter eine blaue Mütze gestopft. Vereinzelte Strähnen hingen wild darunter hervor. Warmer Atem strömte in regelmäßigen Wölkchen aus ihrer Nase, und ihre Augen leuchteten grün wie die einer Katze. Ihre Lippen waren fast weiß vor Kälte.
    Mit einem langen Seufzer gab er nach und folgte ihr durch das Loch im Zaun. Einen Augenblick befürchtete er, er könne in seiner dicken Ski-Jacke steckenbleiben. Sandra griff nach seiner Hand und half ihm beim Aufstehen. Er verfluchte sich dafür, dass er Handschuhe übergezogen hatte.
    Einen Augenblick lang sah sie ihn direkt an. »Tut mir leid, dass ich das gesagt hab. Du bist keine Memme.«
    Natürlich nicht, wollte er erwidern. Im letzten Moment bremste er sich. Er hatte das Gefühl, dass es besser war, nichts darauf zu sagen. Ihn beeindruckte die Leichtigkeit, mit der sie die Entschuldigung über ihre Lippen brachte. Sie war vielleicht erst vierzehn, aber innerlich kam sie ihm viel reifer vor. Möglicherweise reifer als er selbst.
    Sie lief mit weiten Sprüngen durch den Schnee und auf den Waldrand zu. Er folgte ihr in einigem Abstand. Plötzlich blieb sie stehen. Er konnte noch nicht erkennen, was sie meinte, als sie rief: »Ist das nicht toll?«
    »Meinst du nicht, wir sollten ein wenig leiser sein?«
    »Ich sag doch, hier ist niemand. Wirklich nicht.«
    Er trat neben sie und verstand. Vor ihnen öffnete sich die eisverkrustete Oberfläche eines Sees. Irgendjemand hatte den Schnee heruntergeräumt. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. »He«, sagte er. »Nicht schlecht.«
    Es war ein kleiner See, eher noch ein Tümpel. Vielleicht so groß wie der Hof seiner Schule. Etwas an diesem Ort gefiel ihm auf Anhieb. Am Ufer der kreisrunden Fläche standen Trauerweiden bis nah ans Wasser, ihre herabhängenden Zweige steckten festgefroren in der Oberfläche. Ein paar schwarze Krähen stolzierten übers Eis.
    Sandra ließ sich neben ihm im Schnee nieder und begann, die Metallkufen unter ihre Schuhe zu schnallen.
    »Wer hat den Schnee vom Eis geräumt?«, fragte er – weniger aus wirklichem Interesse, als im Bestreben, den peinlichen Augenblick hinauszuzögern, in dem er sich zum ersten Mal mit den fremden Schlittschuhen auf die Nase legen würde.
    »Soldaten«, sagte sie, ohne zu ihm aufzusehen.
    Natürlich, dachte er.
    Kurz darauf betrat Sandra das Eis, holte Schwung und glitt mit einer geschickten Drehung davon. Ihre blank geschliffenen Kufen zischten, während sie geschwungene Muster in die Oberfläche des erstarrten Sees schnitten. Carsten folgte ihr schwankend bis zur Uferböschung. Im hohen Schnee war es noch kein Problem, sich auf den Schlittschuhen zu halten; die Kufen sanken ein und gaben zusätzlichen Halt. Anders würde es auf dem Eis aussehen. Er wünschte sich nichts sehnlicher als Knie- und Ellbogenschoner.
    Sandra wirbelte ausgelassen umher. Aus der Entfernung sah es aus, als tanze sie Ballett. Er erinnerte sich an das, was sie ihm über die Sportschule erzählt hatte. Eislauf und Tanz gehörten zum Unterricht.
    Carsten sah ihr hinterher und versank völlig im Anblick ihrer Bewegungen. Geschickt verlagerte sie ihr Gewicht erst auf das eine, dann auf das andere Bein. Mal glitt sie nur auf einem Fuß dahin, mal auf beiden. Dann wieder sprang sie in die Höhe, schlug in der Luft eine Drehung und landete sicher auf beiden Kufen. Nicht ein einziges Mal lief sie Gefahr zu stürzen oder aus dem präzisen Ablauf ihrer Pirouetten auszubrechen. Sie bewegte sich mit der Eleganz eines schlanken Vogels, und wieder schien es ihm, als löse sie sich völlig vom Boden und schwebe auf unsichtbaren Schwingen dahin.
    So gebannt war er vom Wirbel ihres Körpers auf dem Eis, dass er, ohne nachzudenken, einen Schritt nach vorne machte. Plötzlich verlor er den Halt und taumelte. Er spürte, wie sein rechter Fuß zur Seite knickte, glaubte ein trockenes Bersten gleich unterhalb seines Gelenks zu hören, dann fiel er einfach um. Im Sturz sah er noch, wie Sandra mit erschrockenem Gesicht auf ihn zuschoss, die Arme weit vorgestreckt. Sie erreichte ihn den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Mit einem leisen Aufschrei krachte er aufs Eis, rollte sich herum und blieb stöhnend liegen.
    Was dann geschah, erlebte er nur noch in einem wirren Taumel aus Schmerz und fassungslosem Erstaunen. Sandra richtete ihn nahezu ohne seine Hilfe auf, schob ihn bis zum nächsten Schneewall vorwärts und setzte ihn vorsichtig nieder. Tränen schossen in

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