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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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poetisch.«
    Michaelis lachte. »Ich glaube, wir zwei werden uns gut verstehen.«
    Carsten wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. Der Redaktionsleiter schien es zu bemerken und stand auf. »Schreiten wir zum unangenehmen Teil«, sagte er. »Ich werde Sie jetzt den anderen vorstellen.«
    Er ging voran, und Carsten folgte ihm hinaus ins Redaktionsbüro. Michaelis hatte ihn ganz richtig eingeschätzt. Er hasste Vorstellungen.
    Der Redaktionsleiter schien sich einen Spaß daraus machen zu wollen, den Moment besonders ausgiebig zu zelebrieren. Carsten nahm es ihm nicht übel.
    »Bitte alle mal herhören.«
    Neun Köpfe drehten sich zu ihnen um.
    »Das hier ist unser Kollege Carsten Worthmann aus Frankfurt. Er spielt mit dem Gedanken, sich bei uns einzuquartieren, und wird während der beiden nächsten Tage ein wenig Ostluft schnuppern.«
    Michaelis wandte sich an Nina und grinste. »Unsere Sekretärin haben Sie ja schon kennengelernt. Voilà  – die bezaubernde Nina Larass!«
    Die junge Frau machte einen tiefen Knicks und hob mit kokettem Augenaufschlag ein Paar imaginärer Rockzipfel. Einige Kollegen kicherten.
    »Herrn Ehrlicher kennen Sie ebenfalls schon. Als Nächstes hätten wir hier unseren wackeren Polizeireporter …«
    Ein junger Mann in Carstens Alter prostete ihm mit einer Coladose zu. Er mochte ein paar Zentimeter kleiner sein als er selbst und hatte kurzes, blondes Haar. Auf seiner Nase saß eine bronzefarbene Brille. Ein kariertes Hemd hing lose über seiner Jeans, und er trug teure Basketball-Schuhe aus der Fernsehwerbung.
    »Sebastian«, stellte er sich vor. Carsten nahm an, dass es sich dabei um seinen Vornamen handelte.
    Die Prozedur ging weiter. Nach weiteren zwei Namen gab er es auf, sich die restlichen merken zu wollen. Michaelis wies ihm einen freien Schreibtisch zu, gleich gegenüber von Sebastian, und verschwand in seinem Büro.
    Sebastian bot ihm eine Dose an. »Cola light?«
    »Danke«, sagte Carsten und nickte.
    Kurz vor sechs holte ein Bote das Material für die Ausgabe des nächsten Tages ab und brachte es nach Leipzig. Dort wurde es von Seitenmonteuren zusammengestellt und gemeinsam mit dem in Frankfurt editierten Mantelteil zum Druck gegeben.
    Carsten hatte den Rest des Nachmittages damit verbracht, die Ausgaben der vergangenen zwei Wochen zu studieren. Die vorderen Mantelseiten entsprachen in etwa dem Standard des Verlages – was recht erfreulich war –, und der Lokalteil unterschied sich kaum von dem einer Zeitung im Westen. Später sollte er erfahren, dass Michaelis einen Großteil aller Texte umschrieb und in lesbare Form brachte.
    Als der Redaktionsleiter ihn gegen sieben zu seiner Wohnung brachte, erfuhr Carsten den Grund. »Die meisten der alten DDR-Journalisten schreiben noch haargenau so, wie sie es zu Ostzeiten gelernt haben«, erklärte er, während er seinen BMW durch das Gassengewirr Tiefentals steuerte. »Es gibt natürlich Ausnahmen. Aber gib den anderen eine Rede des Bürgermeisters, und sie setzen sie in voller Länge ins Blatt. Kommentiert mit ein paar Ansichten des Pressesprechers, die sie während seiner letzten Konferenz aufgeschnappt haben.«
    Nach ein paar Minuten stoppte er den Wagen in einer schmalen Straße im Ortskern. Er drückte Carsten einen Schlüsselbund in die Hand und deutete auf einen Hauseingang. Die Tür stand offen.
    »Das ist es. Tut mir leid, dass ich heute keine Zeit für Sie habe. Wir holen das morgen Abend nach, einverstanden?«
    »Gerne.« Carsten zog seine Tasche vom Rücksitz und verabschiedete sich. Er sah dem schwarzen Wagen hinterher, bis er hinter einer Ecke verschwunden war, dann wandte er sich zur Haustür um.
    Es war keines der romantischen Fachwerkhäuser, wie er insgeheim gehofft hatte, sondern ein renovierungsbedürftiger Altbau mit vier Stockwerken, schmutziger Fassade und drei überfüllten Mülltonnen neben dem Eingang. Auch hier gab es zerbröckelte Reste von Stuck an den Mauern. Aus einem offenen Fenster in der dritten Etage hörte er Geschrei, dann das Wimmern eines Kindes. Zwei Türen weiter stand halb auf dem Gehweg ein alter Trabant mit eingeschlagenen Scheiben, aufgeschlitzten Sitzen und leeren Achsen ohne Räder. Irgendjemand hatte unleserlich Schriftzeichen in den himmelblauen Lack der Motorhaube gekratzt.
    Die Außenansicht des Hauses erschien ihm wenig erfreulich, doch das Treppenhaus war wirklich schlimm. In den Ecken lag knöchelhoher Schmutz, und es roch nach ausströmendem Gas. Eine Reihe verbeulter

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