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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Fachwerkhäuser beugten ihre Giebel über das narbige Pflaster, und trübe Sprossenfenster lugten aus Fassaden und Erkern. Einen Moment lang schien es, als habe sich der Wagen ins Mittelalter verirrt; dann sah Carsten die Menschen auf den Gehwegen, die Geschäfte und Parkuhren am Straßenrand, und die Gegenwart hatte sie wieder.
    Sie erkundigten sich nach der Redaktion, und ein alter Mann beschrieb ihnen den Weg durch das Labyrinth verwinkelter Gassen. Die Stadt war größer als erwartet. Sie fragten noch zwei weitere Male, ehe das Gebäude schließlich vor ihnen auftauchte.
    Über dem Eingang prangte eine weiße Metalltafel mit dem Schriftzug der Zeitung. Die Fassade wuchs vier Stockwerke in den Himmel und nahm eine Breite von etwa vierzig Metern ein. Wie weit der Bau in die Tiefe reichte war nicht zu erkennen; allein die Vorderansicht gab eine Ahnung von der enormen Größe des Komplexes. Rechts und links grenzten die Wände an die Stadtmauer. Der Schatten des Hauses fiel auf einen kleinen Vorplatz, in dessen Mitte ein alter Brunnen plätscherte.
    Hinter den hohen Fenstern brannte kein Licht, abgesehen von dreien im Erdgeschoss. Die Farbe war längst von den Rahmen geblättert, und uralte Stuckarbeiten waren achtlos zerfallen und von Moos überwuchert. Das grobporige Mauerwerk schimmerte in schmutzigem Dunkelbraun. Der letzte Anstrich mochte ein Jahrhundert zurückliegen.
    Der Dachstuhl, hoch über der Straße, war ein Wirrwarr aus kantigen Giebeln. Löcher klafften zwischen den Ziegeln. Auf der rechten Seite hatte vor langer Zeit ein Feuer gewütet. Verkohlte Balken stachen hervor wie schwarze Fingerknochen.
    Carsten atmete ein; sehr lange und sehr tief. Dann stieg er aus, nahm sein Gepäck von der Rückbank und bezahlte den Fahrer. Der Student grinste schadenfroh. »Herzlich willkommen und viel Spaß«, rief er, bevor er davonfuhr. Carsten sah ihm nicht nach. Zwei Tage und Auf Wiedersehen, dachte er.
    Ein halbes Dutzend Stufen führte hinauf zum Eingang. Als das Gebäude errichtet wurde, hatten die Erbauer ein kunstvolles Portal mit Ornamenten und Figuren aus Stein entworfen; später hatte man in den einst prächtigen Rahmen eine Mauer gezogen und nur noch Raum für eine kleinere, zweiflügelige Tür gelassen. Spätes sechzehntes Jahrhundert, schätzte er. Spätgotik.
    Die rechte Seite der Tür stand offen. Er trat in eine weite Eingangshalle, verfallen wie der Rest des Gebäudes. Eine Absperrung aus rotweiß gestreiftem Band trennte rund zwei Drittel des Raumes ab. Von dort aus führte eine gewaltige Freitreppe auf eine umlaufende Balustrade im ersten Stock. Die Treppe selbst war gesondert abgesperrt. Jemand hatte mehrere Holzlatten zwischen die steinernen Pfosten genagelt.
    Nur das vordere Drittel der Halle war begehbar. Links zweigte eine hohe, weiß gestrichene Tür ab. Gleich neben dem Eingang befand sich eine Rezeption. Dahinter saß ein Mann, der bei Carstens Eintreten aufsprang. Er trug die schwarze Uniform eines Sicherheitsdienstes.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Carsten grüßte und nannte seinen Namen. »Ich werde erwartet.« Der Mann nickte. Er mochte an die sechzig sein und trug einen grauen, buschigen Schnurrbart. Sein Haar war fast weiß. Er deutete auf eine Liste vor ihm auf der Rezeption und reichte Carsten einen Kugelschreiber mit dem Harzboten- Logo . »Wenn Sie sich bitte hier eintragen würden.«
    Danach sagte er: »Dort entlang. Es gibt nur diese eine Tür.« Carsten nickte, klopfte leicht an die hohe Eichentür und trat ein. Der Anblick war eine angenehme Überraschung. War das Haus auch von außen verkommen und weitgehend zerfallen, so unterschied sich doch die Redaktion in seinem Inneren kaum von irgendeiner anderen, die er im Lauf der vergangenen Jahre kennengelernt hatte.
    Vor ihm öffnete sich ein helles Großraumbüro mit weißen hohen Wänden, grauem Teppichboden und einem Dutzend geräumiger Schreibtische. Auf jedem surrte ein Computer.
    Auf den ersten Blick zählte er acht Redakteure. Einige schauten bei seinem Eintreten mit flüchtigem Interesse auf.
    Eine junge Frau erhob sich hinter einem Tisch gleich neben der Tür. Carsten nahm an, dass sie die Sekretärin war.
    »Herr Worthmann?«, fragte sie und wirkte ein wenig überrascht.
    »Stimmt.« Er versuchte es mit einem freundlichen Lächeln. »Hallo.«
    Sie nickte. »Wir haben Sie noch nicht so zeitig erwartet. Kein Stau unterwegs?«
    Carsten schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Ihr Glück. Sonst sind die Straßen um diese Zeit

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