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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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ausfindig gemacht hatte, in der sich ihr Schließfach befand.
    »Das geht nicht«, meinte Bart.
    »Nur für wenige Stunden.«
    Eine weibliche Stimme rief aus dem Wohnzimmer: »Wir möchten, dass sie endlich geht. Sie hat hier nichts mehr verloren.«
    Bart fuchtelte beschwichtigend mit den Händen. Gedämpft sagte er: »Du musst sie verstehen.«
    »Wen?«
    »Meine Eltern.«
    »Wieso?«
    »Es ist wegen Paul.«
    »Was ist mit ihm? Wo ist er?«
    Bart schniefte. Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und rann die Wange hinab. »Er ist…« Seine Stimme versagte. »Er ist tot.«
    Ein kalter Schauer überkam Beatrice. »Was ist passiert?«
    Bart schnäuzte in ein Taschentuch. »Er hat sich… das Leben genommen.«
    »Das ist ja schrecklich«, sagte sie und verspürte so etwas wie Erleichterung, für die sie sich noch im selben Augenblick schämte. Aber warum? Paul war, anders als ihre Tante, nicht brutal ermordet worden.
    »Das ist es«, sagte ein Mann, der im Türrahmen auftauchte, Pauls Vater. »Und für dein Bedauern ist es jetzt zu spät. Hat dir Bart gesagt, was geschehen ist? Begreifst du, was du angerichtet hast?«
    »Ich? Aber ich kann doch nichts…«
    »Schweig und mach es nicht noch schlimmer!« Er ächzte, hielt sich das Kreuz und kehrte gramerfüllt zurück ins Wohnzimmer. Die Tür knallte hinter ihm ins Schloss, ein Schlag wie eine Anklage. Der Bobtail knurrte.
    »Das ist unfair!«
    »Es tut mir Leid«, sagte Bart.
    »Siehst du das auch so wie dein Vater?«
    Er deutete ein Kopfschütteln an. »Du kannst nichts dafür, ich weiß. Aber meine Eltern geben dir die Schuld. Du hättest nicht fahren dürfen, sagen sie. Nicht nach allem, was sie für dich getan haben.«
    Beatrice glotzte ihn an. Ihre Betroffenheit wich aufsteigender Verärgerung. »Was haben sie denn getan?« Ihre Stimme verlor den Halt. »Ich kann mich nicht daran erinnern. Ist das denn so schwer zu verstehen?«
    »Du solltest besser gehen.«
    Beatrice ließ die Schultern hängen. Zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden forderte man sie dazu auf. Wohin sollte sie denn gehen? Sie besaß ja nicht einmal Geld, um sich irgendwo neue Kleidung zu kaufen. Noch immer trug sie das Regencape und die Gummistiefel ihrer Tante. »Darf ich vorher meine Sachen holen?«
    »Natürlich«, sagte Bart. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer und ließ Beatrice und Buck im Flur zurück. Sie rannte beinahe die Treppe hinauf, Buck folgte ihr auf dem Fuße. Im Schlafzimmer zog Beatrice sich neue, winterfeste Kleidung an, packte eine Reisetasche mit den wichtigsten Habseligkeiten, entdeckte in einer Börse im Schlafzimmerschrank ein Bündel Geldscheine, packte sie in die Jackentasche und verließ danach zusammen mit Buck ohne ein weiteres Wort das Haus, in dem sie einmal gewohnt hatte. Aber dieser Schritt fiel nicht schwer, denn ihr Zuhause war dieser Ort schon lange nicht mehr.
    Rasch lief sie die Willow Road zurück zur S-Bahn-Station. Der Schnee fiel mittlerweile in dichten, beinahe undurchdringlichen Schwaden herab und raubte der Welt die Farben. Starke Windstöße trieben sie vorwärts, als könnten sie nicht erwarten, dass sie endlich aus der Stadt verschwand. Sie pfiffen über den Asphalt und spien ihren Namen aus: »Beatrice!«, krächzten sie.
    Ein Strauch in einem Vorgarten wedelte mit steifen Armen zum Lebewohl. Er kam näher und entpuppte sich als ältere Dame. Miss Barkley, dachte Beatrice mit überraschender Klarheit. Jetzt wusste sie, woher sie den Namen kannte. Doch rechte Freude über diesen Moment der Erinnerung stellte sich nicht ein.
    »Miss Barkley«, sagte sie. Bei dem Anblick der redseligen Seniorin, deren steife Hüfte ihr das Gehen erschwerte, musste sie an Lindesfarne denken.
    »Mein liebes Kind«, begrüßte Miss Barkley sie und wischte sich die Schneeflocken von der Nase. »Sie sind wieder daheim.« Ihre Lippen schienen zu einem Lächeln zu gefrieren. »Und was für ein süßer Hund.« Sie entdeckte die Reisetasche und neigte den Kopf: »Verlassen Sie uns etwa schon wieder?«
    »Ich fürchte ja.«
    Miss Barkleys Mundwinkel sanken herab. »Das ist aber schade.« Sie zog den Kopf zwischen die Schulter. »Es ist schrecklich, was passiert ist, nicht wahr?« Sie warf einen flüchtigen Blick zu dem Reihenhaus, das Beatrice gerade erst verlassen hatte.
    »Das ist es«, erwiderte sie.
    »Nein…«, meinte Miss Barkley und setzte einen Verschwörerblick auf.
    »Was meinen Sie?«, entgegnete Beatrice irritiert.
    »Nein, nein«, machte die alte Dame.

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