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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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auf ihn herabstürzte.
     
     
    Berlin
     
    Der Flur in der sechsten Etage des Plattenbaus an der Frankfurter Allee war nur spärlich beleuchtet. Aber auch ohne Licht wusste Philip, an welcher Zweiraumwohnung er klingeln musste.
    »Herrgott«, brüllte eine Stimme durch das Läuten, »habe ich nicht gerade gesagt, dass ich nichts kaufen…« Die Tür ging auf, ein älterer Mann tauchte mit zornesroter Miene auf. Sein Wortschwall erstarb. »Du?«
    Wie wenig sich die Menschen unterschieden, wenn man sie mit einem überraschenden Besuch behelligte.
    Für Sekunden sprach keiner von beiden. Sie standen steif wie Schneemänner da und starrten sich an.
    Sein Vater hatte sich kaum verändert. Ein paar graue Haare mehr vielleicht, aber selbst die Hausschuhe waren noch die gleichen wie vor sieben Jahren. Ich bin dir keine Erklärung schuldig, hatte sein Vater ihm damals ins Gesicht geschrien.
    »Du wohnst also immer noch in der Platte«, sagte Philip.
    »Ja«, gab sein Vater zurück.
    »Bist nicht umgezogen?«
    »Nein.« Er sagte es, als würde es ihn nicht interessieren. So wie es ihm gleichgültig war, dass er einen Sohn hatte.
    Philip verspürte Wut in sich aufsteigen. »Wahrscheinlich hockst du immer noch am Fenster, Tag für Tag, bläst Trübsal und zählst die Autos auf der Straße. Schlechte Zeiten dafür, oder? Vor lauter Schnee nichts zu erkennen.«
    Die Mundwinkel seines Vaters sanken herab. »Bist du gekommen, um mir das zu sagen?«
    »Nein. Das bin ich nicht.«
    »Weshalb dann?«
    Philip ärgerte sich. Auf dem Weg hierhin war ihm alles so einfach erschienen. Er hatte sich trotz der vielen Wodka-Lemon und der wenigen Stunden, die er geruht hatte, ausgeschlafen und voller Tatendrang gefühlt. Nach dem Gespräch mit Ken war ihm, als müsste er eine schwere Last fortan nicht mehr alleine tragen. Er hatte sich vorgenommen, am Abend mit Chris zu reden.
    In der S-Bahn nach Marzahn hatte er überlegt, wer wohl Beatrice war, der er erneut in seinem verstörenden Traum begegnet war. Ganz sicher war sie nicht einfach ein Produkt seiner Fantasie. Er hatte sich damit zufrieden gegeben, dass er mehr über sie herausfinden würde, früher oder später.
    Wer solche Probleme in den Griff bekam, für den musste es doch eine Leichtigkeit sein, mit dem eigenen Vater zu sprechen. Stell ihn zur Rede und fertig. Das war sein Plan gewesen. Doch in Wahrheit war er sich nicht einmal im Klaren darüber, wie er den alten Mann anreden sollte. Papa? Wohl kaum. Vater? Ja, das war er, biologisch gesehen. Er entscheid sich für Michael.
    »Es ist so weit, oder?«, fragte Michael leise.
    Die Frage weckte Philips Aufmerksamkeit. »Was?«
    »Du weißt, was ich meine«, wich Michael aus und kehrte ihm den Rücken zu. »Komm rein. Und mach die Tür hinter dir zu. Drück fester. Sie klemmt manchmal. Ich hab keine Lust zu frieren.«
    »Ist ziemlich kalt draußen«, meinte Philip.
    »Ja, ein beschissenes Wetter.«
    Sie erreichten das Wohnzimmer. Philip erschrak. Es war über und über mit Devotionalien voll gestopft, wie ein Museum, nur ungleich beengender, einschüchternder, der vielfache Blick von Jesus, Maria, den Engeln.
    »Mein Gott«, entfuhr es Philip.
    Michael nickte. »Ja, du hast Recht. Das ist Gott.« Er räumte zwei Statuen von einem Sessel. »Setz dich.« Er selbst ließ sich auf einem Schemel nieder, eingekeilt zwischen einer hüfthohen Jungfrau Maria, von der die Farbe langsam abblätterte, und einem Jesus, blutig ans Kreuz genagelt. »Also, was willst du?«
    Philip sortierte seine Gedanken. Er fand den Blick einer Mutter Gottes, die auf dem Boden kniete, die Hände vor der Brust inbrünstig zum Gebet gefaltet. Die Figur war so realistisch mit lebensechten Farben in Szene gesetzt, dass er erwartete, sie würde sich jeden Augenblick auf ihn werfen und ihn um Gnade für ihren Sohn bitten. »Was meintest du mit: ›Es ist so weit‹?«
    Michael verzog keine Miene. »Das weißt du doch.«
    »Sag du es mir!«, forderte er sanft. Er wollte keinen Konflikt. Nur Antworten.
    »Einen Teufel werde ich tun. Ich möchte damit nichts zu tun haben.«
    Philip ballte die Hände zu Fäusten. Da war er wieder, dieser Mann, der Antworten verweigerte, der keine Scheu davor hatte, einem 13-jährigen Jungen furchtbare Wahrheiten an den Kopf zu knallen – oder Lügen: Du bist schuld am Tod deiner Mutter. Der ihn hasste. Der ihn ins Heim abschob.
    »Was ist mit meiner Mutter passiert?«
    »Du kennst die Antwort.«
    »Was weißt du von Ritz?«
    »Ich weiß nicht

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