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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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mehr als du.«
    »Warum hast du mir nie von Großmutter erzählt?«
    »Warum, warum! Warum hast du mich nie nach ihr gefragt?«
    Das war glatt gelogen. Am liebsten hätte Philip ihm ins Gesicht geschlagen. »Du weißt, dass das nicht wahr ist.«
    »Ist es das?«
    »Ich hab dich damals nach meinen Großeltern gefragt.«
    »Ich kann mich nicht daran erinnern.«
    »Aber ich. Mir sind deine Worte noch im Ohr. Mir ist, als hättest du erst gestern darüber gesprochen. Deine Antwort war: Das Dreckspack ist tot.«
    »Wahrscheinlich«, sagte Michael.
    »Wie bitte?«
    »Ich habe gesagt: ›Wahrscheinlich sind sie gestorben.‹ Besser wäre das gewesen!«
    Was sollte er diesem Mann glauben? Hatte es überhaupt einen Sinn, sich mit ihm zu unterhalten? Philip funkelte ihn an. »Und was ist mit dir?« Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen.
    »Was soll mit mir sein?«
    »Warum lügst du mich an? Warum warst du nie für mich da?«
    »Weil es so besser ist.«
    »Was soll das denn nun wieder heißen?« Philip kam ein Gedanke. »Besser für wen? Für mich? Oder nur für dich?«
    Michael sah weg. Raus aus dem Fenster, wo der Himmel grau in grau mit der Frankfurter Allee verschmolz. Normalerweise wälzten sich endlose Blechlawinen über die verkehrsreichste Ausfallstraße Berlins. In diesen Tagen aber war alles anders. Michael wirkte nicht wie sein Vater, eher wie ein weit entfernter Bekannter, der ihm nach vielen Jahren mal wieder über den Weg lief. Man kannte sich, aber wusste nichts übereinander. Oder nur wenig.
    »Hab ich’s mir gedacht«, grollte Philip. »Besser für dich.«
    »Was weißt du schon!«
    »Dann erkläre es mir.«
    »Es gibt nichts, was ich erklären kann.«
    »Erklär es mir!« Philips Stimme gewann an Schärfe. »Verdammt, es geht nicht immer nur um dich. Ausnahmsweise geht es heute mal um mich.«
    Michael drückte den Oberkörper durch. Zu viel der Anstrengung. Er sackte wieder in sich zusammen und sagte ohne Regung: »Es geht um dich, mein Junge. Von Anfang an. Nur um dich.«
    »Du bist unfair«, sagte Philip mit bebender Stimme.
    Michael zuckte die Achseln. »Das Leben ist unfair.«
    »Immerhin, wir leben. Meine Mutter nicht.«
    Michael sah ihn mit eigenartigem Blick an, in dem Philip so etwas wie Liebe zu entdecken glaubte, vermischt mit Hass. Die Welt, die er sich geschaffen hatte – ein Kokon aus Gleichgültigkeit, umgeben von abgestorbenen Gefühlen und den Resten eines schwierigen Lebens –, brach zusammen. Er schüttelte den Kopf, den Blick immer noch auf Philip gerichtet. Dann schaute er weg, hinüber zum Fenster, durch das fahles Winterlicht ins Zimmer schien.
    Philip glaubte Tränen in Michaels Augen zu sehen, als er sagte: »Ja, deine Mutter ist tot.«
    »So wie ich das sehe, ist sie gestorben, weil ich sterben sollte.«
    »Findest du das gerecht?« Michael sah ihn trotzig an.
    Philip verspürte Verständnis für seinen Vater, nur ein bisschen, aber das Gefühl überraschte ihn. Ja, in der Tat, er, Philip, war schuld am Tod seiner Mutter. Denn eigentlich hätte er an ihrer Stelle sterben sollen. Doch alles kam anders. Immer kommt alles anders. So viel wusste er, seit er Ritz getroffen hatte. Und dessen Mutter.
    »Natürlich ist es nicht fair«, sagte er. »Aber es ist genauso wenig fair, dass du mich dafür verantwortlich machst. Ich kann doch nichts dafür. Ich war noch ein Kind…«
    »Es geht immer nur um die Kinder«, warf sein Vater bitter ein. Philip ging darüber hinweg.
    »… ich habe davon doch gar nichts mitbekommen.«
    »Hast du nicht?«
    »Was soll das heißen?« Sein Vater sprach in Rätseln.
    Michael sah weg. »Nichts«, sagte er, suchte Trost im Anblick seiner Statuen. »Ich möchte nicht mehr darüber reden. Ich möchte nichts mehr damit zu tun haben. Und du tätest gut daran, wenn du auch die Vergangenheit ruhen lässt. Vergiss das, was geschehen ist. Lebe dein Leben.«
    »Dazu ist es zu spät«, sagte Philip. »Wie du schon sagtest: Es ist so weit.«
    Sein Vater nickte resigniert. »Ja, da hast du wohl Recht. Es ist so weit. Deshalb ist es besser, wenn du gehst. Jetzt sofort.«
    Konsterniert blickte Philip ihn an. Was wusste sein Vater über die Dinge, die geschahen? Die Toten, die zurück ins Reich der Lebenden kamen? Die Visionen? Die infernalischen Albträume? Inwieweit war sein Vater eingeweiht? Und warum sträubte er sich, darüber zu reden? Mehr denn je hatte Philip das Gefühl, dass ihm noch Dinge bevorstanden, gewaltiger als sie ihm bisher widerfahren waren.
    Er stand

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