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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
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Dort ist alles hinterlegt, was du wissen musst, hatte ihre Tante gesagt. Angela. Ihr Herz begann aufgeregt zu pochen.
    Aus dem Pochen wurde ein Donnern, das bis hinter ihre Schläfen reichte, als sie fünf Minuten später alleine den Tresorraum betrat. Draußen vor der Tür wartete einer der Sicherheitsbeamten mit Buck.
    Sie setzte die Reisetasche und den Rucksack ab und sah sich in dem Raum um. Er war in Rot gehalten, roter Teppich, rote Wände, dazu ein weißer Tisch und weiße Stühle. Jetzt verstand sie, weshalb Mister Anorchsky auf seinen Vorschriften bestand. Das gedämpfte Licht erzeugte das Flair einer edlen Cocktail-Lounge. Nichts erweckte den Eindruck eines unbezwingbaren, feuersicheren Tresorraums, nichts bis auf die kleine Tür, die mit einer Nummerntastatur auf halber Höhe in die Wand eingelassen war. Ohne Umschweife tippte sie die Ziffern ein, die auf dem Schlüssel eingraviert waren. Als sie fertig war, setzte irgendwo im Inneren der Wand ein mechanisches Surren ein. Das Geräusch wurde lauter, mit einem verhaltenen Klack sprang die Tür auf – und zum Vorschein kam eine weitere Tür. Ein Safe, nicht sonderlich groß, einen halben Meter im Quadrat vielleicht.
    Sie wartete einen Augenblick, bevor sie den Schlüssel in das Schloss schob, die Klappe öffnete und eine kleine, schlichte Schatulle aus Metall vorfand. Ihre Seitenwände waren glatt, die spitzen Ecken abgeschliffen. Keine Gravur. Nichts. Sie war enttäuscht. Was immer sie erwartet hatte, ganz sicher keine ausgeblichene Kiste. Doch irgendetwas musste an der Schachtel dran sein, oder darin, denn Angela war dafür gestorben. Und Paul auch.
    Als sie die Schatulle aus dem Safe nehmen wollte, konnte sie ihre Hände nicht mehr ruhig halten. Behutsam ergriff sie den Behälter und hob ihn an. Er war leicht. Was immer sich in der Kiste befand, es war nicht viel schwerer als das Metall, das es umgab.
    Sie stellte die Box auf den Tisch in der Mitte des Tresorraumes. Sie ließ eine Minute verstreichen, in der sie die Schatulle nur anschaute. Nichts Auffälliges war zu erkennen. Sie holte tief Luft und öffnete den Deckel der Schatulle. Ganz langsam, als wäre sie die Hauptdarstellerin in einem Spielfilm und hätte die Regieanweisung bekommen, die Spannung noch weiter zu steigern. Als sie die Abdeckung beiseite legte, staunte sie. Nur eine Frage ging ihr durch den Kopf: Das soll mir die Antwort auf all meine Fragen geben?
     
     
    Berlin
     
    »Sie haben sie verfehlt«, sagte der Mann, der sich ihm bei ihrer ersten Begegnung als Jakob Kahlscheuer vorgestellt hatte.
    »Wo ist sie hin?«, fragte Philip. Er stand vor der Tür zum Pfarrhaus, einem verwitterten Gebäude neben den kleinen, gedrungenen Kirchenschiff, das inmitten der Sozialbauten Neuköllns kaum Beachtung fand.
    Seine Mütze und Daunenjacke waren über und über mit Schnee bedeckt, die Cordhose durchweicht. Er kam sich vor wie ein Schneemann. Seit dem Erlebnis in der U-Bahn wollten die Kopfschmerzen nicht mehr weichen; zusammen mit der Eiseskälte fühlte sich sein Schädel an wie über ein grobes Reibeisen gezogen.
    »Man hat sie weggebracht.« Kahlscheuers Stimme war ganz heiser. Falls er sich wunderte, warum Philip im dichten Schneetreiben vor der Pforte des Pfarrhauses St. Clara stand und nicht in der kargen Zelle im Gefängnis saß, so ließ er es sich nicht anmerken. »Gerade eben erst«, sagte er. »Es tut mir Leid.« Etwas schwang in seinen Worten mit, das über die routinierte Anteilnahme eines Priesters hinausging.
    Seit ihrer Begegnung im Gefängnis waren noch mehr Äderchen unter seiner Haut aufgeplatzt, die Wangen von einem blutigen Spinnennetz überzogen. Das weiße Haar stand wirr vom Kopf ab. So sah ein Mensch aus, der gerade Zeuge geworden war, wie die Stoßstange eines PKWs den Schädel eines guten Freundes zermalmt hatte.
    Kahlscheuer bat ihn in das Pfarrhaus. »Kommen Sie rein, es ist so kalt da draußen«, sagte er. »Man könnte meinen, das Ende aller Tage sei angebrochen.«
    Philip zuckte unmerklich zusammen unter den Worten. »Ziemlich kalt, ja«, meinte er nur. Er wischte den Schnee von seiner Jacke, nahm die Mütze ab und schüttelte sie aus. Dann folgte er dem Priester in das verwahrloste Pfarrhaus.
    Er war sich unschlüssig über das, was er von dem Gottesmann erwartete. Seine Großmutter war nicht mehr hier. Man hatte sie weggebracht, zurück ins Krankenhaus, vermutete er. Trotzdem folgte er dem Geistlichen durch einen kühlen, düsteren Gang, vorbei an einem für
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