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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
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diesen Ort erstaunlich kunstfertig gearbeiteten Fresko, das Maria darstellte, die den Heiland im Arm hielt. Das Bild erinnerte ihn an die unzähligen Skulpturen, die sein Vater angesammelt hatte.
    Der Priester führte ihn in ein holzverkleidetes Kämmerlein, in dem die Heizung dem Winter, der wie ein Vampir an den Fenstern Einlass begehrte, kaum etwas entgegenzusetzen vermochte. Der muffige Geruch, der in den Möbeln hing, verstärkte den Druck auf Philips Kopf. Sie setzen sich an einen massiven Landhaustisch, der an diesem Ort fehl am Platze wirkte.
    »Sie sagten mir, Sie kennen meine Großmutter schon lange?«
    Kahlscheuer bestätigte das. »Sie besuchte regelmäßig unsere Gottesdienste.«
    »Was wissen Sie über sie?«
    Der Priester überlegte. »Nicht sehr viel. Und das meiste davon habe ich mir selbst zusammengereimt.«
    »Was können Sie mir sagen?«
    »Ich glaube, Ihre Großmutter war ein sehr einsamer Mensch. Etwas beschäftigte sie; es hat sie schwer belastet. Sie war verzweifelt.«
    »Sprechen Sie mit ihr darüber?«
    »Nein. Wir haben über vieles gesprochen. Wie man so schön sagt: über Gott und die Welt.« Er lächelte versonnen. Dann verschwand das Lächeln so schnell, wie es gekommen war. »Aber über sie selbst haben wir nie geredet.«
    »Sie reden in der Vergangenheit über sie«, argwöhnte Philip.
    »Es tut mir Leid«, bedauerte Kahlscheuer.
    »Ist sie tot?«
    »Sie ist…« Kahlscheuer rang mit den Worten.
    »… gestorben«, sprang ihm Philip bei. Nur ein Wort, nüchtern und so schnell ausgesprochen.
    »Sie ist…« Kahlscheuer zögerte. »… ist ausgerutscht und unglücklich gefallen.«
    Es dauerte einen Moment, bis die Nachricht zu Philip durchsickerte. »Wie bitte?«
    »Sie stand vor meiner Tür, wollte sich nicht beruhigen. Dann…«, seine Stimme war brüchig, »dann ist sie auf dem glatten Weg ausgerutscht und gestürzt. Sie hat… dabei… ihre kranken Glieder…« Er brach mit einem Flüstern ab. »Ihr Genick.« Als wäre damit alles gesagt.
    Philip zitterte. Gleichzeitig kam er nicht gegen das Gefühl an, dass der Priester ihm etwas verschwieg. Er forschte in dessen Gesicht, doch da war kein Hinweis auf eine Lüge. Nur das Alter und der Alkohol, die ihre Spuren hinterlassen hatten.
    Welche Spuren hatte seine Großmutter ihm hinterlassen? Ein Wissen über…ja, was? Über etwas, dessen Zeit gekommen war. Sie hatten nie Gelegenheit erhalten, darüber zu reden. Das war es, was ihren Tod unerträglich machte.
    Der Priester fuhr sich mit der Hand durchs weiße Haar. Philip fiel auf, dass die Knöchel des Priesters knotig und die Fingergelenke rot und geschwollen waren, als litte er an Arthrose. Vermutlich verursachte ihm jede Bewegung heftige Schmerzen. Kahlscheuer sagte: »Diese arme verwirrte Seele.«
    Die Bemerkung löste etwas in Philip aus. Eine Frage brannte ihm auf der Zunge. Doch war der Gottesmann der richtige Ansprechpartner? Vielleicht gerade ein Priester. »Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?«
    Verwundert sah ihn der Geistliche an. »Sie sind nicht der Erste, der mich darauf anspricht.«
    »Nein?«
    »Ihre Großmutter hat mir kürzlich diese Frage gestellt.«
    Aus irgendeinem Grund überraschte das Philip nicht. »Und?«, fragte er. »Was haben Sie ihr geantwortet?«
    »Natürlich glaube ich an ein Leben nach dem Tod.«
    Eine andere Antwort hatte Philip nicht erwartet. »Glauben Sie auch an Geister?«
    »Was wollen Sie von mir hören?«
    »Ich möchte wissen, ob Sie an Geister glauben.«
    »Sie meinen den Heiligen Geist, der uns alle beseelt?«
    »Ich meine richtige Geister.«
    »Richtige Geister?« Der Priester räusperte sich. »Oder meinen Sie die Seelen? Wenn es das ist, was Sie meinen…Ja, dann glaube ich an Geister. Aber sie sind nicht unter uns, sie sind an einem besseren Ort.«
    »Das haben Sie aus der Bibel.«
    »Das ist richtig.«
    »Und was ist mit dem, was nicht in der Bibel steht?«
    »Was soll das heißen?«
    »Was ist mit denen, die nicht dort ankommen, an diesem besseren Ort?«
    »Sie meinen die verlorenen Seelen?«
    Philip nickte.
    Mit seinen gichtigen Händen rieb er sich die roten Wangen. »Nein, ich halte das für einen Irrglauben.« Es klang unsicher. »Gott ruft alle Menschen zu sich.«
    »Und was ist mit den Gespenstern? Den echten Geistern? Den Untoten…?«
    Kahlscheuer hob die Hand. Philip hielt inne. Der Priester fragte: »Was ist mit Ihnen? Glauben Sie daran?«
    »Ja«, antwortete Philip. Es kam so schnell über seine Lippen, dass er selbst
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