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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
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berührten sie auf einer Ebene, die lange Zeit verschüttet lag, und befreiten sie aus den Fesseln ihres Verstandes. Die Erinnerung floss in sie zurück.
    Ihr Leben lag ausgebreitet vor ihr. Auch ihr Sterben. Angela hatte nicht übertrieben. Die Wahrheit war um so vieles schlimmer, sie war berauschend, gewaltig, monströs, Angst einflößend. Ihr schössen die Tränen in die Augen. Ihr Körper bebte. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, der sich nicht lösen wollte und in einem lautlosen Ausatmen versiegte.
    Eine Stimme erscholl: »Hallo?«
    Sie ließ das Achat zurück in die Metallschachtel fallen, und augenblicklich kehrte sie zurück in den Tresorraum. Sie konnte sich wieder bewegen, aber sie brauchte eine Weile, um einen klaren Kopf zu bekommen. Zu viel auf einmal hatte sie erfahren, viel mehr, als ein normaler Mensch ertragen konnte. Aber von Normalität war sie weit entfernt.
    »Hallo?«, rief die Stimme erneut.
    Der Sicherheitsbeamte klopfte gegen die Tür zum Tresorraum. Buck bellte. Sie stülpte den Deckel auf die kleine Schachtel und packte sie in den Rucksack. Sie griff nach der Tasche und schritt ohne einen Blick zurück zum Ausgang. Was hinter ihr lag, war belanglos. Endlich wusste Beatrice, wer sie war und, auch wenn sie sich davor fürchtete, was sie zu tun hatte.
     
     
    Berlin
     
    Die Luft, die Philip auf seinem Weg zum Institut für Rechtsmedizin der Charite in seine Lungen einsog, brachte nicht die erhoffte Linderung seiner Kopfschmerzen mit sich. Dazu war sie viel zu kalt. Verdammt, die Temperaturen waren in den letzten Stunden abermals gesunken. Inzwischen musste es mindestens minus 20 Grad sein. Oder noch kälter. Seine Lippen spürte er nicht mehr. Wann immer er Luft holte, schmeckte er Eis auf seiner Zunge. Seine Nase lief, aber sie kam nicht weit. Das Wasser gefror, noch bevor es zu Boden tropfen konnte, an der Nasenspitze zu einem funkelnden Zapfen. Glücklicherweise hatte er die Strickmütze, die seine Glatze schützte.
    Warum nahm er das alles überhaupt auf sich? Warum legte er sich nicht einfach bei Ken unter die Decke, nicht weit entfernt von der Heizung, wo es warm war, und wartete darauf, dass irgendwann der Frühling kam? Er kannte die Antwort: weil es keinen Frühling mehr geben würde, wenn er jetzt resignierte.
    Nur wenige Menschen waren auf den Straßen und Gehsteigen unterwegs. Sie bewegten sich langsam, als würde der bloße Versuch, vorwärts zu gelangen, zum sofortigen Erfrieren führen.
    Philip kämpfte sich voran. Zu den Schmerzen hinter seinen Schläfen gesellte sich jetzt ein Wimmern und Wispern, als würde jede Schneeflocke eine geisterhafte Stimme auf ihren Schwingen tragen. Oder als hätten die zur Obduktion versammelten Verblichenen beschlossen, mit ihm in Kontakt zu treten, aber nicht einer nach dem anderen, sondern alle zur gleichen Zeit.
    Durch dieses vielstimmige Flüstern bekam er nur am Rande mit, wie ein Mediziner in grünem Kittel sich als Professor Dr. Wittpfuhl oder Fitwuhl vorstellte – so genau verstand Philip seinen Namen nicht – und ihm die Hand schütteln wollte. Philip reagierte nicht schnell genug und begnügte sich damit zu sagen: »Ich möchte zu meiner Oma.«
    »Ihr Name?«, gab der Rechtsmediziner frostig zurück.
    »Philip Hader.«
    »Nein, nicht Ihrer«, meinte Wittpfuhl und grinste jetzt. »Den Ihrer Großmutter.«
    »Eleonore Berder. Sie wurde in der letzten Stunde… eingeliefert.«
    »Können Sie sich ausweisen?«
    »Nein, tut mir Leid. Ich habe meinen Ausweis zu Hause vergessen. Ich bin sofort los, als ich von ihrem Tod erfahren habe.« Wie leicht ihm die Lügen inzwischen über die Lippen kamen.
    Fitwuhl musterte ihn.
    »Hören Sie«, sagte Philip. »Warum sollte ich mir eine Tote ansehen wollen, die ich nicht kenne?«
    Der Mediziner setzte einen durchdringenden Blick auf. »Wenn Sie wüssten, was für durchgeknallte Leute hier in Berlin rumlaufen.« Philip verzog den Mund. Ken lässt grüßen. Wittpfuhl murmelte derweil etwas in seinen Bart und wollte von Philip wissen: »Sind Sie wirklich sicher?«
    Natürlich war er sich sicher. Seine Antwort musste den Arzt überzeugt haben, denn er sagte: »Wie Sie wollen.«
    Sie schritten einen langen weißen Flur entlang. Das Institut wirkte wie ein ganz gewöhnliches Krankenhaus, weiße Fliesen am Boden, septisch reine Kacheln an den Wänden, gedämpftes Neonlicht an der Decke. Die vorletzte Station, an der Patienten auf ihrem diesseitigen Weg Halt machten, war würdelos und unpersönlich.
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