Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
Vom Netzwerk:
ob du angekommen bist und ob es dir gut geht.«
    »Paul«, wiederholte Beatrice nachdenklich, als würde in dem Namen etwas Unheilvolles mitschwingen. Buck hockte schwanzwedelnd vor ihren Füßen, den Stock stolz im Maul. Sie beugte sich zu ihm hinab und nahm den struppigen Kopf in ihre Hände. Das Glöckchen klingelte. »Du bist mir ein süßer Kerl!« Im Gegensatz zu Paul, fügte sie in Gedanken hinzu.
    »Du hast Buck schon damals gemocht, als er noch ein Welpe war«, meinte Angela.
    Beatrice löste sich von dem Hund.
    Sie sah ihre Tante an. Damals. Nur ein Wort, das so schnell über die Lippen kam. Und doch verbarg sich dahinter ein ganzes Leben. Ihre Welt. Nun drohte die Verzweiflung sie doch fortzuspülen.
    »Ich kann mich nicht daran erinnern«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich kann mich nicht an diesen Ort erinnern. Ich kann mich nicht an…«, eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel, »… an dich erinnern.« Eine zweite Träne. Und noch eine.
    Ihre Tante nahm sie in den Arm. »Meine Beatrice«, sagte sie. »Ist schon gut.«
    Natürlich war es das nicht. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Endlich spülten die Tränen Verzweiflung und Furcht aus ihr heraus.
    »Nur zu«, sagte Angela, und in ihrer Stimme lagen Wärme und Zuneigung, bedingungslose Liebe, Achtung und Respekt, mehr, als Beatrice in dieser Sekunde verkraften konnte. Während sie mit dem Himmel um die Wette weinte, den Kopf an die Schulter ihrer Tante gelehnt, und Buck seine Schnauze an ihrem Bein rieb, fühlte sie sich mit einem Mal geborgen und zu Hause. Das Gefühl war so übermächtig, dass sie glaubte, ihre Beine würden unter ihr nachgeben. Doch diese Schwäche verging und wich überraschend einer neuen Kraft. Denn egal, woher das Empfinden gekommen war, es machte ihr Hoffnung. Nein, die Reise wird nicht vergeblich sein.
    Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, und ihre Miene hellte sich auf. Auch ihre Tante strahlte. »So gefällst du mir schon besser«, sagte sie und schritt voran ins Haus. »Du bist doch völlig durchnässt, komm endlich rein. Ich habe dir einen Kirschkuchen gebacken. Den mochtest du schon immer.«
     
     
    Berlin
     
    Die beiden Polizisten legten Philip Handschellen an. Sie führten ihn unter dem kühlen Blick des Kommissars aus dem Vernehmungszimmer und durch einen schlauchartigen Gang, von dem alle paar Meter Türen abzweigten. Ihm kam es vor, als wäre er vor gar nicht so langer Zeit schon einmal über das Linoleum geschritten. Stein und Beton mochten fallen, aber etwas überdauerte die Zeit. Für gewöhnlich sah man es nicht, man konnte es nur spüren. Philip hätte es nicht verwundert, wenn ein preußischer Gardeoffizier mit militärischem Drill aus einer der Türen getreten wäre, stocksteif in seiner blauen Uniform und mit einem gezwirbelten Schnauzbart unter der Pickelhaube.
    Trotz des Pullovers legte sich ein Schaudern über seine Haut und wurde noch einmal verstärkt, als sie am Flurende ein Treppenhaus betraten, in das sich durch Spalten und Ritzen in den Fensterrahmen der Dezemberfrost geschlichen hatte. Die Häuserdächer jenseits der mit Eisengittern gesicherten schmalen Fenster waren mit einer weißen Eisschicht überzogen.
    Die Kälte ließ erst nach, als ihn Rotschopf und grauer Star im Erdgeschoss in eine kleine Zelle stießen. Sie lösten die Handschellen und verließen den Raum. Die Stahltür fiel krachend hinter Philip zu, ein Schlüssel wurde mehrfach umgedreht.
    In einem Anflug von Sarkasmus fragte er sich, ob er hier ein- oder ob die Welt ausgesperrt wurde.
    Das winzige Fenster in zwei Metern Höhe fing nur unzureichend Licht ein. Die Zelle blieb dunkel und armselig. Neben der Tür war eine Kloschüssel ohne Deckel in den Boden eingelassen. In den hinteren beiden Ecken standen zwei Pritschen mit verlausten Matratzen; auf einer war die Filzdecke zu einem Haufen aufgeworfen.
    Der Raum maß vielleicht drei mal drei Meter, und das war noch großzügig geschätzt. Einem Hund in Berlin standen gemäß der Hundeverordnung sechs Quadratmeter Lebensraum zu, wie er aus seiner Zeit als Zivi in einem Tierheim wusste.
    »Was mache ich hier?«, fragte er in die Stille der Zelle. Er fühlte sich einsam und verlassen, und er spürte, wie der Zorn Besitz von ihm ergriff. Wut auf die Ereignisse der letzten Tage, die sein Begreifen überstiegen. Auch auf Chris, die sauer auf ihn war. Auf seinen Vater, der ihn angelogen hatte. Auf Berger, der ihn im Knast schmoren ließ. Auf die ganze gottverdammte

Weitere Kostenlose Bücher