1Q84: Buch 1&2
KAPITEL 1
Aomame
Sich nicht vom äußeren Schein täuschen lassen
Aus dem Radio des Taxis ertönte das Klassikprogramm eines UKW-Senders. Die Sinfonietta von Janáček. Nicht eben die passendste musikalische Untermalung, um mit einem Taxi im Stau festzustecken. Der Fahrer, ein Mann mittleren Alters, schien auch nicht besonders hingebungsvoll zuzuhören. Schweigend blickte er auf die Schlange der Wagen vor ihnen, wie ein alter Fischer, der am Bug seines Schiffes steht und den gefahrvollen Übergang zwischen zwei Meeresströmungen beobachtet. Die Augen sachte geschlossen und tief in die Rückbank gelehnt, lauschte Aomame der Musik.
Wie viele Menschen gab es auf der Welt, die Janáčeks Sinfonietta sofort erkannten, kaum dass sie den Anfang hörten? Vermutlich nur sehr wenige, aber aus irgendeinem Grund gehörte Aomame dazu.
Janáček hatte seine kleine Sinfonietta im Jahr 1926 komponiert. Das Thema war ursprünglich als Fanfare für ein Sportereignis gedacht gewesen. Aomame stellte sich die Tschechoslowakei im Jahr 1926 vor. Der Erste Weltkrieg war vorüber, endlich war man von der langen Herrschaft des Hauses Habsburg befreit, man saß im Kaffeehaus, trank Pilsener Bier, produzierte Maschinengewehre und genoss den flüchtigen Frieden, der in Mitteleuropa Einzug gehalten hatte. Franz Kafka hatte sich zwei Jahre zuvor unter traurigen Umständen von der Welt verabschiedet. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis Hitler auftauchen und das schöne kleine Land mit einem gierigen Biss verschlingen würde. Doch zu jener Zeit ahnte noch niemand etwas von dem bevorstehenden Grauen. Einer der wohl wichtigsten Lehrsätze, den die Geschichte für die Menschheit bereithält, lautet: »Damals wusste noch niemand, was vor uns lag.« Die Sinfonietta im Ohr und vor ihrem inneren Auge die böhmischen Wiesen, die sich im frei und unbekümmert darüberstreichenden Wind wiegten, ließ Aomame ihre Gedanken um das Wesen der Geschichte kreisen.
In Japan starb 1926 der Taisho-Tenno, und die Showa-Zeit – die »Ära des Erleuchteten Friedens«, wie die neue Regierungsdevise lautete – brach an. Eine düstere Epoche voller Leiden nahm ihren Anfang. Modernismus und Demokratie beendeten ihr kurzes Zwischenspiel, und der Faschismus breitete sich aus.
Geschichte gehörte neben Sport zu Aomames Hauptinteressen. Romane las sie so gut wie nie, aber von historischen Darstellungen konnte sie nicht genug bekommen. An der Geschichte gefiel ihr vor allem, dass alle Ereignisse mit konkreten, exakten Jahreszahlen und Schauplätzen verbunden waren. Sich historische Daten zu merken bereitete ihr keine Schwierigkeiten. Auch wenn sie die Zahlen nicht gezielt auswendig lernte, fielen sie ihr automatisch ein, wenn sie den Gesamtzusammenhang der Ereignisse verstanden hatte. In den Geschichtsklausuren der Mittel- und Oberstufe hatte Aomame so gut wie immer die meisten Punkte in der Klasse erzielt. Sooft sie jemandem begegnete, der sich historische Daten nur schwer merken konnte, wunderte sie sich. Warum konnte jemand so etwas Einfaches nicht?
Aomame – »grüne Erbse« – war tatsächlich ihr richtiger Name. Im Ort in den Bergen von Fukushima, aus dem der Großvater ihres Vaters stammte, gab es angeblich viele, die diesen Nachnamen trugen. Sie selbst war jedoch noch nie dort gewesen. Ihr Vater hatte vor ihrer Geburt mit seiner Familie gebrochen. Ebenso ihre Mutter. Daher hatte Aomame ihre Großeltern nie kennengelernt. Sie reiste fast nie, doch wenn es sich ergab, durchsuchte sie die meist in den Hotels bereitliegenden Telefonbücher nach dem Namen Aomame. Bisher hatte sie jedoch weder in größeren noch in kleineren Städten eine einzige Person entdecken können, die ebenfalls so hieß. Und jedes Mal bekam sie das Gefühl, allein auf einem weiten Ozean dahinzutreiben.
Es war ihr immer unangenehm, sich jemandem vorstellen zu müssen. Sobald sie ihren Namen nannte, musterte ihr Gegenüber sie verwundert oder verwirrt. Aomame? Ja, man schreibt es wie »grüne Erbse«: Ao-mame . Wenn sie in einer Firma beschäftigt war und eine Visitenkarte hatte, führte das häufig zu unerfreulichen Begleitumständen. Kaum hatte sie ihre Karte überreicht, warf die andere Person ihr einen Blick zu, als habe sie unerwartet einen Brief mit einer schlechten Nachricht erhalten. Manch einer kicherte sogar, wenn sie sich am Telefon meldete. Sobald ihr Name im Wartezimmer beim Arzt oder in einem Amt aufgerufen wurde, hoben die Leute die Köpfe und starrten sie an. Wie sah wohl
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