Schwesterlein muss sterben
wieder an der Oberfläche ist.
Für einen kurzen Moment kann sie seinen Schatten auf dem Steg über ihr sehen. Dann wird sie wieder von der Taschenlampe geblendet.
»Schwimm! Ich zeig dir, wohin!«
Sie dreht sich um und schwimmt in die Richtung, die die Taschenlampe ihr vorgibt. Schlingpflanzen streifen über ihre Beine. Aber die Kühle des Wassers lindert den Juckreiz ihrer Mückenstiche. Als sie ihr Gesicht einen Moment länger als für den Schwimmzug nötig eingetaucht lässt, hört sie ihn wieder brüllen: »Schwimm! Du sollst schwimmen!«
Je weiter sie auf das Wasser hinauskommt, umso kälter wird es. Sie spürt, wie ihre Muskeln sich verkrampfenwollen. Sie versucht, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen und ihren Rhythmus zu finden. Die nächste Insel ist vielleicht hundert Meter entfernt, mehr ganz sicher nicht. Hundert Meter war auch die Wettkampfbahn, die sie in der Uni in 1 Minute 27 Sekunden geschafft hat.
Der Strahl der Taschenlampe erreicht sie nicht mehr. Sie blickt sich nicht um, um zu sehen, ob er immer noch auf dem Steg ist. Die Felsen vor ihr ragen wie eine dunkle Wand aus dem Wasser.
ERSTES BUCH
»Oh baby, it’s a cruel, cruel world«
(Dance with a Stranger)
JULIA. Zwei Tage vorher
Julia stand oben auf dem Dach unter dem endlos blauen Himmel und dachte: Wow, das ist es! Hier kannst du alt und grau werden. Im nächsten Moment musste sie über sich selber lachen. Sie war gerade erst vierundzwanzig und verschwendete normalerweise wenig Gedanken ans Altwerden. Aber sie war einfach glücklich, dass sie nach langem Suchen diese Wohnung gefunden hatte, die nicht nur mitten in der Stadt lag, sondern sogar ohne weiteres bezahlbar war.
Im letzten Jahr hatte Julia ihren Bachelor in Kunst gemacht, aber Oslo war irgendwie nicht ihr Ding gewesen. Sie war also zurück nach Bergen gekommen und fürs Erste wieder bei ihrer Mutter untergekrochen. Und jetzt hatte sie nicht nur einen Masterstudienplatz an der Kunstakademie in der Strømsgate, sondern endlich auch noch eine eigene Wohnung!
Ein echter Glücksgriff: eineinhalb Zimmer in einem umgebauten Dachboden in der Magnus Barfots Gate, mit einer Küche, die groß genug war, um einen Tisch für mindestens sechs Personen hineinzustellen, und einem Bad, in dem es eine Badewanne mit vergoldeten Löwenfüßen gab. Aber das Beste war das flache Teerdach genau vor ihrem Fenster, sie brauchte nur hinauszuklettern und die Welt lagihr zu Füßen. Sie hatte sich schon genau ausgemalt, wo sie die Blumentöpfe hinstellen würde, den rotweiß gestreiften Liegestuhl, ihren Zeichentisch mit dem wackligen Stuhl vom Flohmarkt. Bei schönem Wetter musste es ein Traum sein, hier oben zu arbeiten, mit dem Blick über die halbe Stadt bis zum Hafen hinunter. Und in den Wetternachrichten hatten sie gerade erst gesagt, dass es einen langen und heißen Sommer geben würde.
Julia kickte einen Kiesel über die Kante und wartete auf das Geräusch, wenn er unten im Hof aufkommen würde. Aber es war nichts zu hören außer dem Straßenlärm von der Håkonsgate, der entfernt zu ihr heraufdrang. Und sich vorzubeugen, um über die Kante zu blicken, traute sie sich nicht. Abgründe waren nicht unbedingt ihr Fall, sie schreckte schon vor dem Blick das Treppenhaus hinunter zurück, und sie war ihren Eltern echt dankbar, dass sie nie auf die Idee gekommen waren, aus ihr eine Bergsteigerin machen zu wollen. Allerdings konnte sie sich ihre Mutter auch nur schwer in Kletterschuhen und mit Helm und Seil vorstellen, wie sie gerade in einer schroffen Fjordwand aufstieg. Von Jan-Ole als Freeclimber mal ganz zu schweigen! Aber ihre ganz private Dachterrasse war zumindest groß genug, um nicht zu nah an die Kante zu kommen – und die eiserne Feuertreppe, die sich in Bergen an nahezu jedem Stadthaus befand, würde sie hoffentlich nie benutzen müssen.
Sie nahm den Weg zurück durchs Fenster und ging in die Küche, um sich einen Espresso aufzusetzen. Ihre Schritte und jede Bewegung hallten laut von den noch kahlen Wänden zurück, aber sie war ja auch gerade erst eingezogen und hatte bisher nur das Nötigste die vier Treppen hinaufgeschleppt. In den nächsten Tagen würde sie genugZeit haben, um alte Filmplakate aufzuhängen, Regale anzuschrauben, die Küche dunkelblau zu streichen, ihr Zimmer fertig einzurichten. Oder einfach nur, um so laut Musik zu hören, dass die Familie unter ihr schon mal wissen würde, was sie in Zukunft erwartete.
Als die Espressokanne zu brodeln anfing, suchte sich
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