Schwesterlein muss sterben
Sie so, wenn Sie gerade mal nicht mit irgendwelchen Bekloppten zu tun haben? Haben Sie eigentlich Kinder? Ich wette, dass Sie Kinder haben. Aber keinen Mann, richtig? Wie viele? Kinder, meine ich jetzt, nicht Männer …«
»Hören Sie damit auf«, sagte Julias Mutter. »Schenken Sie sich bitte Ihre Show, ja?«
»Was denn, schon genervt? Aber wieso? Ich meine, ein kleines Gespräch muss doch wohl noch drin sein, schafft doch Vertrauen. Und ich hab Ihnen ja auch schon was von mir erzählt, jetzt sind Sie dran. Also, was haben Sie so fürGeheimnisse? Sagen Sie es ruhig, ist gut aufgehoben bei mir, echt, versprochen. Ich habe sowieso schon überlegt, dass ich vielleicht noch mal Psychologie studiere. Richtig an der Uni und so. Dann könnten wir quasi als Kollegen miteinander reden. Ich erzähle ein bisschen, was ich für Dreck am Stecken habe, und Sie …«
Julia hatte plötzlich genug gehört. Der ganze Dialog erschien ihr so haarsträubend, dass sie den Player abrupt ausschaltete. Für einen Moment tat Merette ihr leid. Was um alles in der Welt war das für ein Job, bei dem ihr irgendjemand erzählte, dass er gerade erst vierzehn war, als er seine kleine Schwester umgebracht hatte? Und wahrscheinlich kommt dann auch noch raus, dass die Schwester nicht sein einziges Opfer war, genau das hatte der Typ ja gesagt: Meinen ersten Mord, hatte er gesagt, also gab es noch weitere! Aber offensichtlich saß er dafür nicht im Knast, sondern bei ihrer Mutter, die sich den ganzen Scheiß jetzt als Psychologin anhören durfte, ohne etwas tun zu können, weil sie ja an ihre Schweigepflicht gebunden war.
»Hör auf«, sagte Julia laut in die Stille des Arbeitszimmers hinein, »das ist doch alles Quatsch!« Wieso sollte ein Mörder bei ihrer Mutter sitzen? Merette war keine Knastpsychologin, bei ihren Fällen ging es um Leute, die von der nächsten Brücke springen wollten, weil sie nicht mehr weiterwussten, oder die auf Alk oder Pillen waren, weil sie ihren Job verloren hatten oder ihnen die Frau davongelaufen war oder der Mann. So was, aber keine Massenmörder, die kleine Mädchen umbrachten, weil sie ihnen zu clever waren.
Im selben Moment hatte Julia die Lösung. Natürlich, das musste es sein. Merette arbeitete seit einiger Zeit auch stundenweise als Dozentin an der Uni. Was sie da eben gehörthatte, war nichts als eine Übung gewesen, bei der es wahrscheinlich um bestimmte Taktiken der Gesprächsführung ging. Wie man reagiert, wenn der Patient versucht, einen aus dem Konzept zu bringen. So was in der Art. Und im Übrigen war selbst Merette nicht so nachlässig, dass sie die Aufzeichnung eines tatsächlichen Therapiegesprächs einfach so in der Anlage lassen würde. Das passte nicht zu ihr. Wenn es um ihre Patienten ging, war sie unbedingt zuverlässig. Für solche Aufzeichnungen gab es extra den abschließbaren Stahlschrank neben ihrem Schreibtisch.
Julia stieß erleichtert die Luft aus.
»Bescheuerter Beruf«, sagte sie noch einmal laut.
Als sie aufstand, gab das Leder des Sessels ein leicht schmatzendes Geräusch von sich. Julia war vom Nacken bis über den Rücken hinunter klatschnass geschwitzt.
Unschlüssig, ob sie noch weitersuchen sollte, stand sie einen Moment mit der leeren CD-Hülle mitten im Raum. Und plötzlich war die Unruhe wieder da. Irgendein blödes Gefühl, das ihr sagte, irgendetwas wäre ganz und gar nicht in Ordnung. Wieso war Merette eigentlich nicht zu Hause? Wo war sie?
Dann sah Julia die CD auf der Fensterbank neben dem Strauß mit den bunten Papierblumen, den sie vor Jahren als Geburtstagsgeschenk für sie gebastelt hatte. Auf der CD klebte ein kleiner gelber Merkzettel: Unbedingt Julia zurückgeben, sonst flippt sie wieder aus.
Prima, Mama, dachte Julia. Feine Wortwahl für eine Psychologin! Unverändert nervös beschloss sie, Merette auf dem Handy anzurufen. Sie musste ja nicht sagen, dass sie mitten in ihrem Arbeitszimmer stand und in ihren Sachen geschnüffelt hatte. Sie hatte sie nur spontan besuchenwollen und war jetzt enttäuscht, dass niemand zu Hause war. Mehr nicht. Das musste als Begründung reichen. Aber das Handy klingelte endlos, ohne dass ihre Mutter das Gespräch annahm. Und die Mailbox hatte sie wie üblich nicht eingeschaltet.
Julia ging in die Küche, füllte ein Glas mit Leitungswasser und stürzte es in einem Zug hinunter. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte.
Als ihr Handy auf der Küchenablage zu vibrieren anfing, zuckte sie im ersten Moment irritiert
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