Schwesterlein muss sterben
Julia einen Becher aus einem der Umzugskartons. Ihren Lieblingsbecher, den mit der Aufschrift »I GOT NOTHING TO WEAR«. Sie nahm ihren Kaffee und wollte wieder hinaus in die Sonne. Aber dann wollte sie plötzlich genau dort draußen Musik haben. Und zwar jetzt, sofort. Sie wollte Amy Macdonald hören, »A Footballer’s Wife«, und laut mitsingen, während sie ganz für sich allein auf dem Dach tanzte. »But the footballer’s wife tells her troubles and strife, I just don’t care in the end who is she to pretend, that she’s one of them, I don’t think so …«
Solange musste der Kaffee eben warten, ohnehin hatte sie kein Problem damit, kalten Espresso zu trinken, ihre Freunde hatten sich schon mehr als nur einmal über diese Eigenheit lustig gemacht. Aber wenigstens würde sie sich auch nicht die Zunge verbrennen!
Sie setzte also den Becher aufs Fensterbrett und machte sich auf die Suche nach Amy Macdonald. Nach dem dritten Karton gab sie auf. Ihre CDs waren vollständig da, nur diese eine fehlte. Und eigentlich war die Sache ohnehin klar, bevor sie noch lange darüber grübeln musste. Ihre Mutter hatte in den paar Wochen, in denen sie zusammenlebten, die nervtötende Angewohnheit entwickelt, sich wahllos Julias CDs auszuborgen – und was ihr gefiel, verschwand meistens auf Nimmerwiedersehen in dem Chaos ihres Arbeitszimmers, wo sie sich zwischen den Patiententerminenjedes Mal eine Zigarette und einen Song zum Mitsingen gönnte. Wahrscheinlich hatte sie die CD schon in die Finger bekommen, bevor Julia ihre Kartons gepackt hatte.
Ohnehin hatte sie mit Vorliebe in Julias Zimmer herumgeschnüffelt, daran hatten auch vierundzwanzig Jahre Erziehung durch Julia nichts ändern können. Das Kind einer Psychologin zu sein war eben manchmal alles andere als lustig. Julia liebte ihre Mutter, aber war dennoch froh, dass Merette ab sofort keine Chance mehr haben würde, ihren professionellen Deformationen als Kontrollfreak nachzugehen. Die CD allerdings würde sie ihr nicht überlassen, das konnte sie sich abschminken, und mehr noch, sie würde sie sich jetzt sofort zurückholen!
Julia nickte dem Kaffee auf dem Fensterbrett zu: Schön auf mich warten, hörst du? Ich bin gleich wieder da.
Sie verplemperte nur wenig Zeit damit, sich zwischen dem Top mit dem Erdbeermuster und dem schulterfreien Teil in Pink zu entscheiden. Dann wählte sie den kürzesten Rock dazu, den sie auf die Schnelle finden konnte. Sie tuschte sich ein bisschen Mascara auf die Wimpern und war fertig für den Ritt auf ihrem Rennrad, das sie sich noch in Oslo geleistet hatte. Vierundzwanzig Gänge, Vorder- und Hinterradschaltung, Shimano-Bremsen und der Rahmen leuchtend blau!
Im Fahrradkeller traf sie auf einen pickligen Fünfzehnjährigen, der bei ihrem Anblick innerhalb von Sekunden so rot wurde, dass er glatt als Ampelmännchen hätte auftreten können, und sich dann stotternd erbot, ihr das Rad auf die Straße zu tragen.
»In zehn Jahren vielleicht«, meinte sie fröhlich und warf lachend ihre blonden Haare zurück. Sie hoffte nur, dass eres mit seinen Phantasien noch rechtzeitig bis unter die Dusche schaffen würde.
Eine halbe Stunde später hatte sie Amy Macdonald gefunden, wie vermutet im Arbeitszimmer ihrer Mutter, zwischen Stapeln von Fachzeitschriften und irgendwelchen Notizen für einen Artikel, den sie offensichtlich gerade schrieb. Merette war nicht zu Hause, weshalb Julia die Gelegenheit nutzte, um ihrerseits ein bisschen zu schnüffeln. Aber es gab nichts, was ihre Aufmerksamkeit länger als fünf Sekunden gefesselt hätte – und das, wonach sie eigentlich suchte, war nicht dabei: Sie fand nicht den kleinsten Hinweis darauf, ob ihre Mutter nun eine Affäre hatte oder nicht. Bei ihrem letzten Telefongespräch war die Rede von einem Kollegen gewesen, den sie auf irgendeiner Tagung kennengelernt hatte und mit dem sie zu einem »Arbeitsessen« verabredet war. Bei ihrem Lieblingsitaliener! Was Julia sofort stutzig gemacht hatte, denn ihre Mutter lehnte es grundsätzlich ab, mit »Kollegen« irgendwohin zu gehen, wo man sie noch aus der Zeit mit Jan-Ole kannte und schnell irgendwelche Gerüchte entstehen konnten. Originalton Merette: »Ich brauche das nicht, dass sich Gennaro da irgendwas zusammenreimt und es wenig später die halbe Stadt weiß.« Andererseits hätte Julia ihr ein kleines Abenteuer durchaus gegönnt, sie hoffte sogar darauf, dass »es« endlich mal wieder passieren würde. Irgendetwas stimmte da nicht so ganz. Nach der
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