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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Wolff
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sie fürchtet, wieder das Bewusstsein zu verlieren. Sie versucht verzweifelt, den Schmerz zu ignorieren und sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Name. Wohnort. Wo und wann geboren. Sie ist eins neunundsechzig, sie wiegt achtundfünfzig Kilo, sie hat blonde Haare. Augenfarbe grau, unveränderliche Kennzeichen keine, Lieblingsessen Lasagne, Lieblingsgetränk Whiskey Sour, Lieblingsschauspieler Colin Farrel, Schauspielerin Penelope Cruz, Bands Snow Patrol, Artic Monkees, Razika. In dieser Reihenfolge. Nein, erst Artic Monkees, dann Snow Patrol. Egal, denkt sie, darum geht es nicht, es geht darum, dass sie nicht aufhört, gegen die drohende Ohnmacht anzukämpfen. Also weiter. Sie steht auf die Gedichte von Sylvia Plath. Sie hat keine Ahnung, wie jemals jemand auf die Idee kommen konnte, Peer Gynt für große Literatur zu halten. Sie hat vor langer Zeit mal ein Referat über Peer Gynt gehalten und behauptet, dass Peer Gynt wahrscheinlich von morgens bis abends bekifft gewesen war. Sie ist immer noch überzeugt, dass sie recht hatte … weiter! Sie ist zurzeit ohne festen Freund, sie hat einen gefleckten Kater, der ihr vor kurzem erst zugelaufen ist und für den sie noch einen Namen finden muss. Sie war im Winter Skilaufen auf dem Idre Fjäll und im letzten Sommer in Frankreich am Atlantik. Der Ort hieß …
    Irgendwas mit H am Anfang. Sie spürt Panik in sich aufsteigen, als ihr der Name nicht gleich einfallen will. Nördlich von Biarritz, Capbreton hieß der eine Ort und … Hossegor! Das war es. Die Gedankenkette in ihrem Kopf reißt unvermittelt ab, und sie sieht sich plötzlich selber wie ineinem Film. Sie ist in einem Treppenhaus, plötzlich sind Schritte hinter ihr, und ein Schatten, ein Arm, der auf ihren Kehlkopf gepresst wird und ihr die Luft abschnürt, eine Hand, die ihr gleichzeitig ein Tuch, einen Lappen ins Gesicht drückt. Und dann … Sie weiß es nicht mehr. Sie erinnert sich an nichts.
    Ihr ist immer noch kalt. Und sie muss immer noch pinkeln. Das Pochen in ihrem Kopf hat einem beständigen Schmerz Platz gemacht, der sich pulsierend über Schultern und Brust ausbreitet und sie grelle Lichtkreise sehen lässt, kaum dass sie die Augen schließt. Sie spürt ihre Arme und Beine nicht mehr, als würden sie nicht länger zu ihrem Körper gehören. Die Mückenstiche in ihrem Gesicht jucken unerträglich.
    Sie hat keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist. Der Lichtschimmer von der Tür ist schwächer geworden, der Eimer, der Tisch, das Netz sind nur noch vage Flecken in der Dunkelheit. Sie versucht zu rechnen. Es ist Sommer, das heißt, es bleibt lange hell, die Sonne geht erst gegen Mitternacht unter. Es war später Mittag, als sie betäubt worden ist, macht also mindestens sieben Stunden, die sie jetzt hier liegt, eher länger.
    Hossegor, sagt sie unvermittelt vor sich hin, als würde es irgendeine Rolle spielen, dass sie den Namen nicht noch mal vergisst. Und der Weg zum Strand führte durch ein Dünental, in dem die Luft in der Hitze flimmerte. Sie erinnert sich daran, wie er sie plötzlich an sich gezogen hat … sein heiseres Flüstern dicht an ihrem Ohr … seine Haut, die feucht vom Schweiß war … seine Hände auf ihrem Körper, sein Mund in ihren Haaren, an ihrem Hals, und dann langsam abwärts, über ihre Brüste, ihren Bauch …
    Sie muss kurz weggedämmert sein. In einem Traum gefangen, wie auf der Flucht vor einer Welt, die nicht wahr sein soll. Als sie den Schlüssel in der Tür hört, weiß sie im ersten Moment wieder nicht, wo sie ist. Dann blendet sie der Strahl der Taschenlampe, die direkt auf ihr Gesicht gerichtet ist. Er ist zurück, denkt sie. Ich muss irgendwas zu ihm sagen. Er muss mir Antworten geben. Ich muss wissen, was das alles soll. Aber sie bringt keinen Ton heraus, nur ihr Atem geht schneller, sie hört sich selber keuchen.
    Als er sich über sie beugt, kann sie undeutlich die Maske erkennen, die er trägt. Eine rote Zipfelmütze, eine Knollennase, buschige, weiß angemalte Augenbrauen. Ein weißer Plastikbart, wie bei einer billigen Kasperpuppe. Ein Zwerg, denkt sie. Ein Zwerg aus einem Märchen.
    Der Zwerg hält ihr eine Wasserflasche an den Mund. Sie trinkt so gierig, dass das meiste Wasser über ihr Kinn und auf ihr T-Shirt läuft, dann verschluckt sie sich und muss husten. Als sich ihre Blase leert, spürt sie für einen Moment Erleichterung, bis die Taschenlampe über ihren Körper wandert und die Stimme hinter der Maske leise sagt: »Du dreckige

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