Schwiegertöchter (German Edition)
müssen. Er hob unwillkürlich den rechten Arm, in den Fingern einen imaginären Bleistift, und skizzierte etwas in die Luft. Na bitte, sagte er zu sich. Bitte. Die Macht des Unbewussten. Ich habe einen auffliegenden Kiebitz gezeichnet und musste nicht mal überlegen, was ich mache, bevor ich es gemacht habe. Ich wusste es einfach. Ich wusste es, weil da oben auf den Regalen irgendwo ein Kiebitz ist, wahrscheinlich ohne Kopf und mit ein oder zwei fehlenden Flügelrippen, aber ich habe einmal jeden Knochen in seinem Körper gekannt, und dieses Wissen ist nun so tief in mir verankert wie meine DNA . Die Jungs werden nichts dagegen haben, diese Regale zu entrümpeln. Sie werden es verstehen. Sie werden wissen, wenn die Küche ihrer Mutter gewissermaßen der Maschinenraum des Hauses und des Familienlebens gewesen ist, dann ist dieses Atelier immer der Ausguck gewesen. Hier drin, hätte Anthony beinahe laut gesagt, in diesem Raum haben wir nicht nur über die Notwendigkeiten des Lebens nachgedacht – unerlässlich, natürlich –, sondern auch über seine Möglichkeiten . Und auch wenn Rachel lieber sterben würde, als es zuzugeben, ich glaube, dass sie das im Grunde ihres Herzens auch weiß. Aber es macht ihr Angst, weil es etwas ist, das sie nicht kontrollieren kann.
Wie Ralph. Hatten sie Ralph jemals wirklich kontrollieren können? Wenn er als kleiner Junge mal fügsam war, dann, weil er es wollte oder weil es ihm gerade passte, aber nie, weil er sich auch nur im Geringsten dazu verpflichtet gefühlt hatte. Und wegen dieses angeborenen Eigensinns hatte Ralph stets eine besondere Faszination auf seine Mutter ausgeübt. Sie liebte ihn nicht mehr, als sie Luke oder Edward liebte – davon war Anthony überzeugt –, aber sie war gewissermaßen von Anfang an von ihm verzaubert gewesen, von diesem Geschöpf, das immer nur am Rand oder ganz außerhalb ihres Einflussbereichs gelebt hatte. Zwar war er in den letzten Jahren scheinbar etwas lenkbarer geworden und hatte Rachels energischen, praktischen Bemühungen, sein Leben zu organisieren, nachgegeben – die Hochzeit mit Petra, der Umzug in das Haus in Aldeburgh –, aber am Ende musste dafür zwangsläufig ein Preis gezahlt werden. Und der Preis waren die ganzen familiären Turbulenzen dieses Sommers. Dazu kam die schleichende – und für Rachel so schmerzhafte – Erkenntnis, dass sie, die Eltern, nicht mehr der Dreh- und Angelpunkt der Familie waren, dass die Besuche der Kinder seltener und ihre Erzählungen dürftiger wurden, und dass sie als Eltern nicht mehr selbstverständlich in alles mit einbezogen wurden, was vor sich ging. Das war aus Lukes Anruf gestern Morgen deutlich hervorgegangen. Sie würden zwar über alles informiert werden, aber sie würden nicht mehr maßgeblich die Diskussionen darüber bestimmen, was als Nächstes geschehen sollte. Die drei Brüder, das war die Quintessenz von Lukes Kurzfassung ihrer spontanen Londoner Zusammenkunft gewesen, hatten jetzt ihre eigenen Prioritäten: ihre Leben, ihre Kinder, ihre Ehefrauen.
»Wir sind alle hier«, sagte Luke munter. »Wir verbringen den Tag zusammen, wir alle neun. Es geht uns gut. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Alle sind glücklich. Barney hat heute Morgen sogar seine ersten vier Schritte gemacht. Er ist zum Brüllen komisch.«
Es war Anthony, der Lukes Anruf entgegennahm. Er war allein in der Küche und stand nur da, starrte aus dem Fenster über dem Spülbecken, während Luke den vergangenen Abend beschrieb, wie Ralph keine Ahnung hatte, dass er Petra und seine Kinder bei Edward antreffen würde, wie Petra offensichtlich wieder Vernunft angenommen und das einzig Richtige getan und mit den Kindern den Bus nach London genommen hatte. Wenn Rachel in der Küche gewesen wäre, hätte sie das Telefon verlangt und ihn mit Fragen bombardiert, aber sie war unterwegs zum Einkaufen, Milch und Streichhölzer und eine Krabbe zum Abendessen, falls sie eine bekäme, und es blieb Anthony überlassen zu sagen: »Gut. Gut, mein Junge. Ich freue mich so, ich bin sehr dankbar …«, und dann mit dem Telefon in der Hand dazustehen, nachdem Luke aufgelegt hatte, und verwirrt zu denken: Was war das denn jetzt gewesen? Was war das?
Als Rachel davon hörte, wollte sie sofort anrufen, um Einzelheiten zu erfahren. Sie hatte schon das Telefon in der Hand und hielt es ans Ohr, als Anthony es ihr gewaltsam entwand.
»Nein.«
»Ich muss anrufen, ich muss Gewissheit haben.«
»Lass sie.«
»Ich kann nicht, ich muss
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