Schwur der Sünderin
ohne Holz zurückkommen würde, gäbe es eine Tracht Prügel vom Vater. Verzweifelt blickte Johannes sich um. Jeder Baum sah gleich aus, und die Kronen standen dicht zusammen, sodass das Licht im Wald düster wirkte, obwohl gerade die Mittagszeit vorbei war.
»Verdammt!«, schimpfte Johannes und fragte sich leise: »Aus welcher Richtung bin ich gekommen?« Doch er wusste es nicht mehr. Einen umgestürzten Baumstamm, der den Weg versperrte, übersprang der Junge mit Leichtigkeit. Dabei hörte er plötzlich ein Geräusch, das ihn zusammenzucken ließ. Als er ein zweites Mal den ungewohnten Laut vernahm, beschleunigte sich sein Herzschlag, und sein Atem ging keuchend. Johannes duckte sich und suchte Schutz hinter dem Baumstamm, dessen Rinde an einer Seite dick mit Moos bewachsen war.
Johannes wartete einige Atemzüge, und als es im Wald still blieb und sich sein Herzschlag wieder beruhigt hatte, kam er aus der Hocke hoch. Vorsichtig blickte er sich nach allen Seiten um – und erstarrte.
Von einem Augenblick zum anderen sah er sie plötzlich vor sich. Wie gebannt schaute Johannes in die Augen mehrerer Wölfe, die ihn ebenfalls starr anblickten. Er war unfähig, sich zu rühren, obwohl er weglaufen wollte. Zähnefletschend zogen sie ihre Lefzen hoch und kamen Schritt für Schritt näher. Gerade als sie über Johannes herzufallen und ihn zu zerreißen drohten,
ertönte ein Pfiff, und sofort spitzten die Wölfe ihre Ohren. Als ein zweiter Pfiff zu hören war, wandte sich das Rudel winselnd von Johannes ab und verschwand zwischen den Bäumen.
Johannes, aus seiner Erstarrung erwachend, wagte nicht, sich zu bewegen. Er hatte Angst, dass das Rudel zurückkommen würde. Voller Furcht schaute er den Tieren nach, als er ihn vor sich sah.
Auf einem nahen Erdwall erkannte Johannes einen Wolf, der größer war als jeder andere Wolf, den der Junge in seinem ganzen bisherigen Leben gesehen hatte. Wie ein Mensch stand dieser Wolf aufrecht auf zwei Beinen auf der Anhöhe und blickte Johannes aus tiefblauen Augen an. Als der Riesenwolf eine Pfote zu heben schien, lief der Junge schreiend fort und merkte nicht, wie er sich in die Hose nässte.
Kapitel 1
Mehlbach, ein Dorf in der Kurpfalz, im Sommer 1525
Jakob Hofmeister lag in seinem Bett und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit der Schlafstube. »Woher kam das Geräusch?«, murmelte er beunruhigt und lauschte angestrengt. Da es im Haus aber ruhig blieb, schloss er müde die brennenden Augen.
Hofmeister war kaum eingeschlafen, als ein erneuter Laut ihn aufscheuchte und sein Herz schneller klopfen ließ. Hastig setzte er sich hoch und stupste vorsichtig seine neben ihm schlafende Frau an. Sarahs Nachtruhe schien das nicht zu stören, denn sie atmete leise schnarchend ein und aus. Jetzt glaubte Hofmeister sogar verhaltene Stimmen aus dem Stockwerk unter seiner Schlafstube zu hören.
»Sarah!«, flüsterte Jakob aufgeregt und stieß sein Weib an, sodass sie erwachte. »Da ist jemand in der Küche!«
»Das wird die Katze sein, die sich ins Haus geschlichen hat. Schlaf weiter, Jakob«, nuschelte sie und drehte ihm den Rücken zu.
»Das ist nicht die Katze. Ich kann Stimmen unter uns in der Küche hören.«
Ungehalten setzte sich Sarah nun auf und horchte ebenfalls. »Nein, das wird dieser unsägliche Knecht Mathis sein, der sich über das restliche Abendessen hermacht!«, schimpfte sie leise.
»Unfug!«, grummelte Jakob. »Warum sollte Mathis dabei lärmen? Da unten sind mehrere Personen. Ich sag dir, Sarah: Wir haben Einbrecher im Haus!«
Erschrocken zog die Frau die Bettdecke hoch bis zum Kinn, während ihr Mann beherzt das Bett verließ. Jakob griff nach dem Knüppel, der für solch einen Fall in der Ecke neben der Wäschetruhe stand, und öffnete leise die Tür. Vorsichtig streckte er die Nasenspitze durch den Türschlitz. Als er nichts hören konnte, schob er die Tür mit dem blanken Fuß weiter auf, den Prügel mit beiden Händen hoch über den Kopf haltend.
»Was siehst du?«, flüsterte seine Frau.
»Schscht! Sei still!«, wies er sie unwirsch zurecht.
Jakob Hofmeister verließ die Kammer und trat auf den dunklen Flur hinaus. Als die Dielenbretter unter seinen nackten Füßen knarrten, zuckte er zusammen, und als Sarah dicht hinter ihm flüsterte: »Sei vorsichtig!«, hätte er vor Schreck beinahe den Holzknüppel fallen gelassen.
»Geh zurück ins Bett!«, zischte er seiner Frau zu.
»Bist du des Wahnsinns? Ich bleibe nicht allein in der
Weitere Kostenlose Bücher