Schwur der Sünderin
erblicken konnte, war ein großer Wolf, der vor dem Feuer saß. Sie war wie gelähmt vor Entsetzen, als der Wolf zu sprechen begann und sie erkannte, dass das Untier ein Mensch war, der sich in einen Wolfspelz gehüllt hatte.
Der Fremde blickte sie grimmig an – aber mit Augen, die so blau waren wie der Himmel.
Nicht nur seine Erscheinung war Furcht erregend gewesen, sondern auch, dass er mit drei Wolfswelpen in der Höhle hauste. Anna Maria wäre damals am liebsten fortgerannt, aber da sie
sich beim Sturz den Kopf verletzt hatte, war sie gezwungen, zu bleiben und sich zu schonen.
Verängstigt lag Anna Maria auf einem Lager aus Pelzen und blinzelte die Wolfsjungen und den Fremden aus verkniffenen Augen an. Sie traute sich kaum zu schlafen, denn sie fürchtete sich vor den wilden Tieren und vor dem Mann, der offenbar selbst zum Wolf geworden war.
Wenn Anna Maria später nachdachte, hatte Veit ihr im Grunde nie einen Anlass gegeben, sich vor ihm zu fürchten. Zwar war er rüde und abweisend, und er hatte es ihr schwergemacht, ihm zu vertrauen. Auch war sie angewidert gewesen, als sie mit ansehen musste, dass er die Jungen wie eine Wölfin aus seinem Mund mit rohem Fleisch fütterte. Doch nachdem sie einige Tage in der Höhle verbracht und ihn beobachtet hatte, glaubte sie hinter seiner rauen Art einen besonderen Menschen zu erkennen.
Tage später waren lärmende Wolfsjäger ins Revier eingedrungen. Um die Welpen in Sicherheit zu bringen, forderte der Wolfsmann Anna Maria auf, mit ihm und den Jungtieren den Schutz der Höhle zu verlassen. Er brachte sie auf den rechten Pfad, damit Anna Maria ihre Suche nach den Brüdern fortsetzen konnte. Dann verschwand der Mann zwischen den Bäumen und ließ die junge Frau allein zurück. Noch in derselben Nacht wurde Anna Maria von den Wolfsjägern gefangen genommen und auf Burg Nanstein bei Landstuhl verschleppt. Hier in den Ruinen der ehemaligen Felsenfestung hatte sich ein Söldner names Johann mit seinen Leuten einquartiert, um den Winter zu überdauern. Die Wolfsjäger wussten, wie sie Gewinn aus der Gefangennahme der jungen Frau schlagen konnten, und erzählten dem Söldner, dass Anna Maria eine Seherin sei. Von diesem Augenblick an durfte sie die Burg für lange Zeit nicht mehr verlassen.
Schaudernd erinnerte sich Anna Maria daran, wie viel Glück sie damals gehabt hatte. »Wie einfältig ich doch gewesen bin! Ich bin in eine Welt marschiert, von deren Gefahren ich nichts wusste«, murmelte sie und blickte auf ihren kleinen Bruder, der eng an sie gekuschelt tief und fest schlief.
Nach vielen Wochen in der Gefangenschaft des Söldners Johann auf der Burg Nanstein bekam Anna Maria erstmals eine Möglichkeit zur Flucht, da die Ankündigung eines Besuchers aus irgendeinem Grunde Tumult auslöste. Allerdings wurde sie von ihren Peinigern schnell wieder gefasst. Anna Maria war erneut Johanns Gefangene, als sie den Fremden auf der Burg zu Gesicht bekam und in zwei Augen blickte, die so blau wie der Himmel waren.
Wieder seufzte Anna Maria auf. In der Erinnerung sah sie sich und Veit, wie sie beide eines Nachts in der Küche der Burg Nanstein zusammengesessen und er sie plötzlich geküsst hatte.
»Gott, wie dumm ich doch gewesen bin!«, flüsterte Anna Maria und schlug vor Scham die Hände vors Gesicht. Unter den Handflächen konnte sie die innere Hitze spüren, die ihre Wangen zum Glühen brachte. Wie damals strömte ein Kribbeln durch ihren Körper, ein für sie seltsames, ihr fremdes Gefühl, das sie nicht zu deuten gewusst hatte.
Wie unerfahren ich gewesen bin! , dachte Anna Maria und schüttelte ungläubig den Kopf. Als sie gespürt hatte, wie Veit versuchte, ihre Lippen zu öffnen, hatte sie sich hastig aus seiner Umarmung gelöst. Sie wollte nicht, dass er merkte, dass sie noch nie geküsst worden war. Er hingegen fühlte sich zurückgewiesen und mied von da an jede weitere Berührung.
Anna Maria drehte sich auf die Seite und umfasste mit beiden Händen den Zipfel der Bettdecke, den sie sich kurz vor ihr erhitztes Gesicht presste.
Wären die jungen Wölfe ihm nicht gefolgt, wer weiß, ob alles so gekommen wäre, grübelte sie stumm. Während sie sich mit der Bettdecke erneut übers Gesicht fuhr, glaubte sie eine Tür knarren zu hören. Als diese leise ins Schloss fiel, ahnte sie, woher das Geräusch gekommen war.
Vorsichtig, damit Nikolaus nicht erwachte, krabbelte Anna Maria aus dem Bett und verließ lautlos die Kammer. Auf dem Gang traf sie
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