SdG 05 - Der Tag des Sehers
Anbetracht der Tatsache, dass die K’ell-Jäger vernichtet wurden, sieht es so aus, als würde uns jemand diese Aufgabe abnehmen.«
Stille. Dann konzentrierte sich die Aufmerksamkeit nach und nach auf Silberfuchs.
Sie lächelte. »Ich habe schon vor einiger Zeit gesagt, dass ihr alle Hilfe brauchen würdet.«
Kallor stieß ein wütendes Knurren aus. »T’lan Imass! Dann sag uns doch, Hexe, warum sollten sie sich mit den K’Chain Che’Malle befassen? Sind denn nicht die Jaghut ihre erklärten Erzfeinde? Warum also deinen untoten Gefolgsleuten neue aufbürden? Warum seid ihr – du und die T’lan Imass – in diesen Krieg eingetreten, Weib?«
»Wir sind in gar nichts eingetreten«, antwortete sie, die Augen halb unter den schweren Lidern verborgen; sie stand genauso da, wie Flickenseel dagestanden hätte, mit ihrem kräftigen, aber kurvenreichen Körper unter der Tunika aus Hirschleder, die Hände vor dem Bauch verschränkt.
Oh, diesen Blick kenne ich. Jetzt gibt’s gleich ’nen Taschenspielertrick. Vorsichtig …
»Willst du dann also leugnen«, begann Bruth langsam, und sein Gesichtsausdruck war gleichermaßen düster und unsicher, »dass deine T’lan Imass für die Vernichtung dieser K’ell-Jäger verantwortlich waren?«
»Hat sich eigentlich keiner von euch jemals gefragt«, entgegnete Silberfuchs, während sie alle nacheinander ansah, »warum die T’lan Imass gegen die Jaghut Krieg geführt haben?«
»Nun, eine Erklärung würde uns vielleicht helfen, das alles etwas besser zu verstehen«, meinte Dujek.
Silberfuchs nickte kurz. »Als die ersten Imass aufgetaucht sind, waren sie gezwungen, im Schatten der Jaghut zu leben. Sie wurden toleriert, nicht weiter beachtet, aber nur in kleinen, leicht überschaubaren Gruppen. Wurden in die ärmsten Landstriche vertrieben. Dann haben sich unter den Jaghut Tyrannen erhoben, die Gefallen daran gefunden haben, sie zu versklaven, ihnen eine albtraumhafte Existenz aufzuzwingen – so dass nachfolgende Generationen in diese Situation hineingeboren wurden und kein anderes Leben kannten, so dass sie nichts von der Freiheit an sich wussten.
Die Lektion war hart, und sie wurde auch nicht leicht angenommen, denn die Wahrheit war die: Es gab intelligente Wesen auf der Welt, die die Tugenden anderer ausbeuteten – ihr Mitgefühl, ihre Liebe, ihren Glauben an ihre Art. Die sie ausbeuteten und sich darüber lustig machten. Wie viele Stämme der Imass mussten entdecken, dass ihre Götter in Wirklichkeit Jaghut-Tyrannen waren? Verborgen hinter freundlichen Masken. Tyrannen, die sie mit der Waffe des Glaubens manipulierten.
Eine Rebellion war unausweichlich, und sie war für die Imass verheerend. Sie waren schwächer, unsicher, was sie überhaupt suchten oder was die Freiheit sie sehen lassen würde, sollten sie sie finden … Aber wir haben nicht nachgegeben. Wir konnten nicht.«
Kallor lachte höhnisch. »Es hat unter den Jaghut nie mehr als eine Hand voll Tyrannen gegeben, Weib.«
»Eine Hand voll war schon zu viel, und, ja, wir haben unter den Jaghut Verbündete gefunden – solche, für die die Taten der Tyrannen verwerflich waren. Aber wir trugen jetzt Narben. Narben, die Misstrauen und Verrat uns geschlagen hatten. Wir konnten nur noch unserer eigenen Art trauen. Im Namen unserer zukünftigen Generationen würden alle Jaghut sterben müssen. Keiner durfte übrig bleiben, um neue Kinder in die Welt zu setzen und zuzulassen, dass eines dieser Kinder neue Tyrannen aufziehen würde.«
»Und was hat das mit den K’Chain Che’Malle zu tun?«, fragte Korlat.
»Bevor die Jaghut diese Welt beherrschten, haben die K’Chain Che’Malle diese Welt beherrscht. Die ersten Jaghut waren für die K’Chain Che’Malle wie die ersten Imass für die Jaghut.« Silberfuchs machte eine Pause, ihr düsterer Blick wanderte von einem zur anderen. »Jeder Spezies ist der Wunsch nach Vorherrschaft angeboren. Unsere Kriege mit den Jaghut haben uns als lebendige Menschen, als eine pulsierende, sich weiter entwickelnde Kultur zerstört. Das war der Preis, den wir bezahlt haben – für die Freiheit, die ihr jetzt besitzt. Unser ewiges Opfer.« Sie verstummte erneut für zwei, drei Herzschläge und fuhr dann in einem härteren Ton fort: »So, und jetzt frage ich euch – euch alle, die ihr es auf euch genommen habt, Krieg gegen ein tyrannisches, alles verschlingendes Reich zu führen, möglicherweise euer eigenes Leben zu opfern, und das alles für das Wohl von Menschen, die nichts von
Weitere Kostenlose Bücher