SdG 05 - Der Tag des Sehers
einer spiralförmigen Bewegung näher und näher.
Heißer Atem wehte gegen ihren Nacken.
Die Mhybe schrie.
Und erwachte. Über ihr ein verblassender blauer Himmel, ein vorbeiziehender Falke. Ein dahintreibender Staubschleier von der Herde. Ferne Stimmen und – viel näher – das mühsame, rasselnde Geräusch ihrer eigenen Atemzüge.
Der Wagen hatte aufgehört, sich zu bewegen. Die Armee schlug ihr Nachtlager auf.
Sie lag zusammengekauert und reglos unter den Pelzen und Fellen. Ganz in der Nähe hörte sie Stimmengemurmel – zwei Stimmen. Sie roch den Rauch eines Dungfeuers, roch mit Kräutern gewürzte Fleischbrühe – Salbei, einen Hauch Ziege. Eine dritte Stimme kam hinzu, wurde von den ersten beiden begrüßt – alle merkwürdig undeutlich, so dass sie sie nicht erkennen konnte. Es ist die Mühe nicht wert. Meine Wächter. Meine Wärter.
Der Wagen quietschte. Jemand hockte sich neben sie. »Der Schlaf sollte dich nicht so erschöpfen.«
»Nein, Korlat, das sollte er nicht. Bitte, lass es mich endlich selbst beenden – «
»Nein. Hier, Coll hat Eintopf gemacht.«
»Ich habe keine Zähne mehr, mit denen ich kauen könnte.«
»Es sind nur kleine Fleischstreifen, die gut zu schlucken sind. Das meiste ist Brühe.«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Trotzdem. Soll ich dir helfen, dich aufzusetzen?«
»Der Vermummte soll dich holen, Korlat. Dich und den Rest. Euch alle miteinander.«
»Komm, ich helfe dir.«
»Deine guten Absichten bringen mich um. Nein, sie bringen mich nicht um. Das ist es ja gerade, oder …« Sie ächzte, versuchte vergeblich, sich aus Korlats Händen zu winden, als die Tiste Andii sie ohne Mühe in eine sitzende Position hob. »Sie quält mich, deine Barmherzigkeit. Die alles andere ist als das. Nein, sieh mir nicht ins Gesicht, Korlat.« Sie zog sich die Kapuze tiefer in die Stirn. »Sonst fange ich noch an, mich nach dem Mitleid in deinen Augen zu sehnen. Wo ist die Schale? Ich werde essen. Lass mich allein.«
»Ich bleibe bei dir, Mhybe«, erwiderte Korlat. »Schließlich sind es zwei Schalen.«
Die Rhivi starrte ihre runzligen, pockennarbigen, skelettartigen Hände an, dann die Schale, die sie in ihnen hielt, die wässrige Brühe mit den Stückchen weinfleckigen Fleisches. »Siehst du das? Der Metzger der Ziege. Der Schlächter. Hat er oder sie angesichts der verzweifelten Schreie des Tiers gezögert? In seine bettelnden Augen gesehen? Gezögert, sein Messer zu gebrauchen? In meinen Träumen bin ich wie diese Ziege. Das ist es, wozu du mich verfluchst.«
»Der Metzger der Ziege war ein Rhivi«, sagte Korlat nach einem Augenblick. »Du und ich, wir beide kennen dieses Ritual sehr gut, Mhybe. Beschwichtigung. Die Anrufung des barmherzigen Geistes, dessen Umarmung notwendig ist. Du und ich, wir beide wissen, wie dieser Geist über die Ziege kommt, oder über jede andere Kreatur, deren Fleisch dein Volk ernähren soll, dessen Fell euch kleidet. Und aus diesem Grund schreit das Tier nicht, und es bettelt nicht. Ich habe zugesehen … und mich gewundert, denn es ist in der Tat etwas Bemerkenswertes. So etwas gibt es nur bei den Rhivi, nicht was die Absicht anbelangt, sondern die Wirksamkeit. Es ist, als ob der durch das Ritual angerufene Geist dem Tier eine bessere Zukunft zeigt – etwas, das über jenes Leben hinausgeht, das es bis zu diesem Augenblick gekannt hat – «
»Lügen«, murmelte die Mhybe. »Der Geist betrügt die arme Kreatur. Um das Schlachten leichter zu machen.«
Korlat schwieg.
Die Mhybe hob die Schale an die Lippen.
»Und wenn schon«, griff die Tiste Andii das Thema wieder auf, »vielleicht ist die Täuschung dennoch ein Geschenk … der Barmherzigkeit.«
»So etwas gibt es nicht«, schnappte die Mhybe. »Es sind nur Worte, um den Mörder und seine Verwandten zu trösten, nichts weiter. Tot ist tot, wie die Brückenverbrenner zu sagen pflegen. Diese Soldaten kennen die Wahrheit. Die Kinder des malazanischen Imperiums geben sich keinerlei Illusionen hin. Sie lassen sich nicht so einfach verzaubern.«
»Du scheinst viel über sie zu wissen.«
»Zwei Seesoldatinnen kommen gelegentlich vorbei, um mich zu besuchen. Sie haben die Aufgabe übernommen, über meine Tochter zu wachen. Und mir von ihr zu erzählen, da das sonst niemandem in den Sinn kommt, und ich schätze sie dafür.«
»Das habe ich nicht gewusst …«
»Beunruhigt es dich? Sind mir irgendwelche schrecklichen Geheimnisse offenbart worden? Wirst du das jetzt unterbinden?«
Eine Hand legte sich
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