Sean King 03 - Im Takt des Todes
wie sie erzählte, was geschehen war. Manchmal sprach sie dabei wie ein Kind und dann wieder mit dem Vokabular und der Reflexion einer Erwachsenen, deren Unterbewusstsein schon lange mit den Geschehnissen jener Nacht rang und versuchte, ihnen einen Sinn zu geben.
Der Mann in Uniform war in jener Nacht gekommen. Michelle erinnerte sich nicht daran, ihn je zuvor gesehen zu haben. Sie musste immer geschlafen haben, wenn er gekommen war. Doch in dieser Nacht war ihre Mutter sehr nervös und behielt Michelle bei sich. Ihre Mutter sagte dem Mann, dass sie ihn nicht sehen wolle, dass er gehen müsse. Zuerst dachte der Mann, das wäre ein Witz, und als klar wurde, dass dem nicht so war, wurde er wütend. Er begann sich auszuziehen. Als er nach Michelles Mutter griff, rief diese ihrer Tochter zu, sie solle laufen. Dann riss der Mann Michelles Mutter auch schon die Kleider vom Leib. Sie wollte ihn aufhalten, doch er war zu stark und zwang sie zu Boden.
Michelle hatte nur eine Sekunde gebraucht, um sie zu erreichen. Sie hatte die Waffe ihres Vaters schon manchmal gehalten – natürlich ungeladen. Sie zog die Pistole des Soldaten aus dem Holster, das er mit seinen Kleidern aufs Sofa geworfen hatte. Sie richtete die Waffe auf seinen Rücken und feuerte. Ein großer roter Fleck erschien mitten auf dem Rücken des Mannes.
Er starb, ohne einen Laut von sich zu geben, und sank auf Michelles Mutter zusammen, die vor Entsetzen das Bewusstsein verlor.
»Ich habe ihn getötet. Ich habe einen Mann getötet.« Tränen rannen über Michelles Gesicht, als sie nun von diesem Ereignis berichtete, das so lange in ihrem Innern vergraben war.
Mit der Pistole in der Hand hatte sie noch immer dort gestanden, als die Tür aufschwang und ihr Vater ins Zimmer kam. Er sah, was geschehen war, nahm Michelle die Waffe ab und zog die Leiche des Mannes vom Körper seiner Frau. Sie war noch immer bewusstlos. Er trug sie hinauf, legte sie ins Bett und eilte wieder hinunter zu Michelle. Er flüsterte ihr zärtlich ins Ohr.
»Er hat meine Hand genommen«, sagte Michelle mit schwacher Stimme. »Er hat gesagt, er müsse eine Weile fort, aber er würde bald zurück sein. Ich habe ihn angefleht, er solle nicht gehen, habe mich an sein Bein geklammert und wollte nicht loslassen. Dann hat er gesagt, er würde mich mitnehmen … dass wir einen Ausflug machen. Er setzte mich vorne in den Wagen. Dann ging er wieder hinein, holte den Mann hinaus und legte ihn hinten auf den Boden.«
»Warum nicht in den Kofferraum?«, fragte Horatio.
»Der war voll Müll«, antwortete Michelle sofort. »Also hat Daddy den Mann vor den Rücksitz gelegt. Ich habe das Gesicht des Mannes gesehen. Seine Augen waren noch immer geöffnet. Ich wusste, dass er tot war, denn ich hatte auf ihn geschossen. Ich weiß, was passiert, wenn man auf jemanden schießt. Man stirbt. Man stirbt immer.«
»Was hat dein Daddy als Nächstes getan?«, fragte Horatio sanft.
»Er hat eine Zeitung über den Mann gelegt. Und einen alten Mantel und ein paar Kisten … was er finden konnte. Aber ich konnte immer noch sehen, wie die Augen des Mannes mich anschauten. Ich begann zu weinen und sagte zu Daddy: ›Daddy, ich kann noch immer die Augen des Mannes sehen. Er schaut mich an. Mach, dass er damit aufhört.‹«
»Und was hat dein Daddy getan?«
»Er hat mehr Zeug auf ihn gelegt. Mehr Zeug, bis ich den Mann nicht mehr sehen konnte. Keine Augen mehr, die mich anstarrten.«
»Und dein Daddy ist irgendwo hingefahren?«
»In die Berge. Er hat den Wagen geparkt und ist kurz weggegangen. Aber er hat mir versprochen, dass er wieder zurückkommt. Und das ist er auch. Er ist zurückgekommen.«
»Ohne den Mann?«
Michelle bekam einen Kloß im Hals, und dann schluchzte sie: »Er hat den Mann weggebracht. Aber ich konnte nicht auf den Boden runterschauen. Er war ja vielleicht noch da.« In ihrer Qual beugte sie sich nach vorn.
»Ruh dich ein bisschen aus, Michelle«, sagte Horatio. »Alles ist gut. Nichts von alledem kann dich verletzen. Der Mann kommt nicht wieder. Du kannst ihn nicht mehr sehen.«
Michelle richtete sich auf, und schließlich versiegten ihre Tränen.
Horatio fragte: »Sollen wir weitermachen?«
Gefasst nickte sie und sagte: »Und dann ist er nach Hause zu Mami gefahren. Mein Daddy hat mich nach Hause gefahren.«
»War sie da wach?«
Michelle nickte. »Sie hat geweint. Sie und Daddy haben miteinander gesprochen. Daddy war wütend … so wütend wie noch nie. Sie dachten, ich könne es
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