SECHS
Grundschule.
Der gelbe Lamy-Füller. Das Gefühl von Magie, das er verspürt, als seine ersten Worte ungelenk auf das Papier fließen.
Schnitt.
Als Nächstes der wundervolle Moment Weihnachten '79, als er im Alter von fast zehn Jahren, seine erste E-Gitarre unter dem Baum findet.
Schnitt.
Hörsaal der Uni. Vorlesung Germanistik. Die grazile Melanie, eine Reihe vor ihm. Aus großen, braunen Augen blickt sie verstohlen zu ihm hoch.
Erste Küsse. Sex. Hochzeit.
Schnitt.
Der überwältigende Moment der Geburt seines ersten Kindes.
Schnitt.
Dann das Jetzt.
Allumfassende Schwärze.
Schnitt.
-4-
Den fahrenden Wecker, den Anna Liebermann letztes Jahr von ihrem Freund Matthias – mittlerweile Ex-Freund – zu Weihnachten bekommen hatte, war geradewegs der Hölle entstiegen. Da war sie sich ganz sicher. Jeden Morgen schwor sie sich, den wie R2-D2 auf Speed fiependen Wahnsinn zu zermalmen, seine elektronischen Eingeweide möglichst großflächig auf dem Parkett zu verteilen. Aber jedes Mal, wenn das Ding endlich gestellt war, ließ sie doch Gnade walten.
Einmal noch.
Das war auch am 21. Dezember 2009 so. Wie jeden Morgen schlug der Wecker Alarm. An diesem Tag um fünf. Die Elektronik setzte „Ring The Roller“ mit einem Rucken in Bewegung, und als sein Motor die Massenträgheit überwunden hatte, schoss er surrend, piepend und blinkend in der Dunkelheit umher. Das erste Hindernis, gegen das er stieß, war ein Bein von Annas Schminktisch und das katapultierte ihn umgehend in eine andere Richtung. Allerdings in die Falsche, nämlich an Annas Bett vorbei. Noch bevor der Zufallsgenerator die beiden Räder in die jeweils entgegengesetzte Richtung drehen und der Quälgeist damit einen Haken schlagen konnte, hatte sich Anna mit einem gereizten Stöhnen über den Bettrand gezogen, die Hand ausgestreckt und ihn vom Boden gepflückt. Stille.
Nur noch zehn Minuten.
Als sie wieder erwachte, war es halb sechs. Um sechs Uhr begann ihre Schicht. Mit einem erstickten Schrei fuhr sie hoch, stieß die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett. Sie verfluchte sich dafür, dass sie die Party gestern nicht wie geplant um dreiundzwanzig Uhr verlassen hatte.
Ein netter, aber am Ende doch harmloser Flirt mit einem äußerst attraktiven Mann, hatte sie zum Bleiben veranlasst. Doch das war nicht das Spektakulärste an diesem Abend. Es waren die Basstöne, die ihr wuchtig in die Magengrube gefahren waren, sich dann als Kribbeln bis in den Nacken vorgearbeitet hatten, um dort schließlich die Nackenhärchen aufzustellen.
Das Gefühl, das an diesem Morgen durch ihren Körper wanderte, hatte nun nichts mehr mit jenem angenehmen Kribbeln zu tun, das sie gestern empfand. Es handelte sich vielmehr um einen stechenden Schmerz, der sich heiß durch ihre Nervenbahnen grub, von ihrem Nacken ausgehend, über den Hinterkopf bis in die rechte Augenhöhle wanderte.
Wie viel hast du getrunken, Frau Liebermann?
Ein Ibuprofen musste es richten. Andernfalls nämlich würde sie das grelle Halogen-Licht heute nicht ertragen und den ganzen Tag mit zusammengekniffenen Augen durch die Gegend laufen. Und als Empfangs-Chefin in einem der exklusivsten Hotels in Berlin würde das bei den Gästen nur für Irritation sorgen. Immerhin hatten hier schon einige psychotische Rock-Stars auf Koks ihr Zimmer zerlegt und gescheiterte Börsen-Spekulanten ihr Leben gelassen.
Schnell spurtete sie in Richtung Badezimmer, entledigte sich noch im Laufen ihres Nachthemds, erst auf einem, dann auf dem anderen Bein hüpfend ihres Slips und sprang eilig unter die Dusche. Nachdem sie sich geduscht, angezogen, frisiert und geschminkt hatte, befand sie mit einem schnellen Blick in den Spiegel, dass sie zwar immer noch aussah, als habe sie eine Begegnung mit einem Tanklastzug gehabt, aber immerhin nicht mehr so übel, wie nach der Kollision mit einem Güterzug.
Das war eine der wenigen positiven Feststellungen, die sie an diesem Tag noch machen sollte. Nur ahnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nichts davon.
Gewissheit darüber hatte sie erst um exakt 6:17 Uhr. Jetzt war es 5:55 Uhr. Anna zog die Wohnungstür hinter sich zu. Ihre Handtasche hatte sie in der Eile vergessen.
-5-
Erleichtert stellte Anna fest, dass es über Nacht nicht geschneit hatte. Die Straßen waren frei und trocken. Sie hoffte, dass sie auch weiterhin mit ihren Sommerreifen durch den Winter kommen würde. Die Lust, mit ihrem bald zwanzig Jahre alten Nissan Micra, dessen roter Lack von der Sonne bereits
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