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SECHS

SECHS

Titel: SECHS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niels Gerhardt
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verließ die schützende Deckung. Sorgsam darauf bedacht, einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu wahren, schlüpfte sie flink an Claire vorbei.
    Keine zwei Sekunden später hörte man Sofie genüsslich das Muhen einer Kuh imitieren.
    „Du blöde ...“, fauchte Claire und eine wilde Hetzjagd begann. Kurz darauf dann das Schlagen von Türen und ein Schlüssel, der mit einem lauten Krachen im Schloss umgedreht wurde. Sofie hatte sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert.
    Beide Eltern starrten sich mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Belustigung an.
    „Ich muss jetzt aber wirklich abhauen“, sagte Frank.
    „Von wegen! Du willst abhauen.“
    „Noch drei Tage, dann habe ich Urlaub.“ Frank lächelte seine Frau sanft an und wischte ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
    „Bis dahin musst du die Peitsche alleine schwingen, okay?“
    „Ich beneide dich, Herr Brenner.“
    „Ach ja?“
    Sie nickte.
    „Deine Teilnehmer hören dir zu, meine tun das nicht. Obwohl ich so interessante Sachen sage wie: Zieht euch an, putzt euch die Zähne, habt ihr schon die Hausaufgaben gemacht?“
    Frank lachte. Dafür liebte er sie.
    „Völlig unverständlich“, pflichtete er ihr bei, „gegen das, was du zu sagen hast, hat SIP die gleiche Faszination, wie ein Brust-Implantat in Größe A auf Pamela Anderson.“
    Das bescherte ihm einen Schwinger in die Seite.
    „Und nun zieh' mal los, Mister Zynismus, und rette die Welt.“ Sie umarmten sich.
    Als Frank über die Türschwelle in den kühlen Wintermorgen hinaustrat, beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Sein Herz schlug wild gegen sein Brustbein und seine Atmung beschleunigte sich.
    Doch der erste von zu vielen Schritten oder vielleicht auch zu wenigen, war bereits gemacht.

-3-
     
    Schritt zwei, drei, vier. Frank sog die frische Luft ein. Sie schnitt ein wenig in der Lunge, schüttelte aber jeden Rest von Müdigkeit ab. Das irrationale Gefühl, das gerade noch wie ein Kometenschauer über ihm herabgeregnet war, verglühte bereits in der Atmosphäre seiner Gedanken. Er war schon beim Kurs.
    Die drei Tage würden ein Kinderspiel werden. Er versuchte zu überschlagen, wie oft er alleine diesen Lehrgang schon gegeben hatte. Hundert Veranstaltungen waren es bestimmt. Wahrscheinlich mehr. Obwohl er diesen Kurs mit Leichtigkeit würde halten können, war er heilfroh, dass er danach Urlaub hatte. Das nun ausklingende Jahr war sehr anstrengend gewesen. Die meiste Zeit seines Trainerlebens verbrachte er auf Reisen. Mal war er in Frankfurt, mal in Hamburg oder München zu Gast. Aber ganz egal wie weit, er befuhr Deutschland grundsätzlich mit dem Auto.
    Und Melanie gefiel das gar nicht. Je weiter eine Veranstaltung entfernt war, desto inständiger bat sie ihn, er möge mit dem Zug reisen. Sie hatte Sorge, er könne eines Tages nicht wieder nach Hause zurückkehren. Und so abwegig war das nicht. Bei der Kilometerzahl, die er zusammenbrachte, stieg die Wahrscheinlichkeit irgendeinen Idioten auf der Autobahn zu treffen immens. Das war ihm durchaus bewusst.
    Trotzdem war das Risiko nichts, verglichen mit den Qualen, die man erleiden musste, wenn man Knie an Knie mit irgendeinem Mitreisenden über mehrere Stunden in einem Zug-Abteil eingepfercht war. Jeder schien stets sorgsam darauf bedacht, sich so wenig wie möglich zu bewegen, nur um den anderen nicht zufällig zu berühren. Auch er. Am Ende fühlten sich seine Knie immer an, als wären sie stundenlang in einem Schraubstock eingespannt gewesen.
    Dieser Kurs fand ausnahmsweise in Berlin statt und so würde er heute Abend wieder sicher bei seiner Familie sein.
    Schritt siebzehn, achtzehn, neunzehn.
    Als Frank gerade seine Autoschlüssel herauskramte, in Gedanken wieder woanders, da passierte es - just in dem Moment, als er seinen fünfundzwanzigsten Schritt tat, kaum noch zehn Schritte von seinem parkenden Wagen entfernt.
    Links von ihm heulte ein Motor auf und dann vernahm er Gummi, der quietschend über den Asphalt radierte. Als er den Kopf herumriss, sah er zwei glühende Augen auf sich zuschießen.
    Wird es weh tun?
    Es tat nicht weh. Er würde heute nicht nach Hause kommen. Das tat weh.
    Schnitt. Dunkelheit.
    Dann lief vor seinem inneren Auge der Film seines Lebens ab. Er sah sich als etwa zweijährigen Jungen mit seinem Vater auf einer grünen Wiese herumtollen. Unbeschwerte Zeiten mit ihm. Noch. Bis es passiert war. Im nächsten Moment erschien das Gesicht seiner Mutter. Sie lächelt ihn sanft an.
    Schnitt.
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