Sechselauten
geschenkt, bevor die ganze Sache angefangen hat.«
ERSTE HALBZEIT
Mit der ersten Halbzeit ist es wie mit dem ersten Kuss: Man beginnt einfach.
Wenn man sich auf dem Feld zum ersten Mal begegnet, gut vorbereitet durch einen ehrgeizigen Trainer, dann ist man zuversichtlich. Hoffnungsvoll. Und wenn es ein Heimspiel ist, vielleicht sogar euphorisch. Dies ist umso erstaunlicher, als dass keiner der Beteiligten wirklich weiß, wie das Spiel ausgehen wird. Womit wir wieder beim ersten Kuss wären, da ist es ebenso.
Aber wie fängt man an? Einfach loslegen ist nicht leicht. Die einen starten zögerlich, die Reaktion des Gegenübers abwartend, während andere drauflosstürmen wie junge Stiere. Es gibt kein Rezept. Beides kann gut oder schlecht sein. Je nach Gegner (und in Abhängigkeit von den eigenen Möglichkeiten) wird man sich für diese oder jene Strategie entscheiden.
Hat das Spiel einmal begonnen, gelten andere Gesetze. Das runde Leder rollt oder fliegt. Wem gehört es eigentlich? (Und wem die Liebe?) Mit etwas Glück treten Strategien in den Schatten der Intuition; die Lust triumphiert über das Kalkül, und es wird tatsächlich Fußball gespielt.
Der erste Kuss blendet das Ende aus. Seine Geschichte ist die Hoffnung, sonst nichts.
1
I n Zürich kämpfte die Frühlingssonne gegen den Nebel. Kurz nach ein Uhr mittags verzogen sich die grauschwarzen Wolken, und die alte Stadt an der Limmat strahlte, als hätte sie kaum Schlechtes zu berichten.
Kommissar Eschenbach kam zu nichts an diesem Tag. Zu nichts Wesentlichem jedenfalls, wie er fand. Er saß in seinem Büro in der Kasernenstrasse am Schreibtisch und hatte den ganzen Morgen Akten studiert: Berichte, Statistiken und die Budgetkontrolle fürs erste Quartal. Das Update Sicherheitsdispositiv EURO 8 war er durchgegangen und den Schlussbericht zur Operation Bevölkerungsschutz, Großraum WEF Davos .
Er streckte die Arme, drückte seinen breiten, schmerzenden Rücken gegen die Stuhllehne. Das schwarze Leder knarzte.
»Beep«, machte der Computer.
Mürrisch blickte der Kommissar auf den Bildschirm, eine weitere E-Mail war eingegangen. Die zweiunddreißigste an diesem Morgen. Er löschte sie.
Die Bürotür ging einen Spalt weit auf, und Rosa Mazzoleni steckte ihren Kopf herein: »Ich hab Ihnen eine E-Mail geschickt.«
»Aber Sie sind doch jetzt da, Frau Mazzoleni.«
»Frau Kobler hat angerufen. Sie lässt fragen, wo Sie stecken.«
»Hier«, sagte Eschenbach.
»Ich glaube, die Chefin erwartet Sie.«
»Hat sie das gesagt?«
»Nein.« Rosa seufzte. »So wie sie gefragt hat, habe ich dasherausgehört. Und sie hat Ihnen eine E-Mail geschickt, hat sie gesagt.«
»Tatsächlich?« Eschenbach blickte auf, sah seine Sekretärin an, für die der ganze Bürowahnsinn so normal schien wie der Abendverkehr in ihrer Heimatstadt Neapel.
»Hier ist sie.« Rosa traute sich nun doch ganz herein und legte ein Blatt Papier auf den Tisch. Daneben platzierte sie eine rosarote Sichthülle mit weiteren Blättern. »Ich habe gleich alle ausgedruckt.«
»Sie lesen meine E-Mails?«
»Natürlich nicht.« Rosa zupfte an ihren schwarzen Haaren, die ihr halblang auf die Schultern fielen. »Aber wenn Sie sie nicht lesen, dann muss ich sie wohl durchsehen.«
»Wissen Sie«, sagte der Kommissar. »Mit den E-Mails ist es wie mit Ihrem Sugo: Von den vielen Tomaten bleibt am Ende nur wenig übrig. Kochen lassen und abwarten, Frau Mazzoleni.«
»Das ist Porzellan.« Rosa betrachtete die zwei Zigarillostummel auf der Untertasse. »Und eine Luft ist das hier drin …« Hustend ging sie zum Fenster und öffnete es.
»Furchtbar«, sagte Eschenbach. Bedächtig nahm er eine neue Brissago aus der Schachtel und zündete sie an.
»Sie sind dieses Jahr Ehrengast«, sagte Rosa, nachdem sie auf dem Schreibtisch Ordnung gemacht und das Kaffeegeschirr auf ein Tablett geräumt hatte. »Und weil es das Jahr der Fußball-Europameisterschaft ist, hat die UEFA eine Ehrentribüne errichten lassen.«
»Steht das auch in Ihren E-Mails?«
»Ma sì. Traditionen sind der Kitt der Gesellschaft.«
»Tribünen haben keine Tradition, Frau Mazzoleni. Nicht beim Sechseläuten. So etwas hat es dort noch nie gegeben, in zweihundert Jahren nicht. Man steht einfach, basta!« Der Kommissar legte Rosas Sichthülle in die oberste Schublade und erhob sich. »Ehrengast, Ehrengabe, Ehrendame, Ehrenpreis,Ehrenabzeichen …«, referierte er, während er an Rosa vorbei zur Tür schritt. »Das sind alles Tomaten für Ihren
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