Sechselauten
Eschenbach sofort aufgefallen, als er das Büro betreten hatte. Auf dem Messingplättchen, das am Holzrahmen befestigt war, las er: JMW Turner: The Blue Rigi – Leihgabe Lara Bischoff. Irritiert blieb Eschenbach eine Weile stehen. Dann löste er sich vom Bild, ging zur Fensterfront gegenüber und machte sich an seinem Handy zu schaffen. Als sich eine Frauenstimme meldete, wusste der Kommissar nicht, ob er die dazugehörige Schwester schon einmal gesehen hatte oder nicht.
»Dem Herrn Lenz seine Frau ist gerade hier … ich glaube, sie sind zusammen in die Cafeteria gegangen.«
»Vollschlank, groß … dunkle, kurze Haare?«
»Ja, genau. Rosa, hat sie gesagt, heißt sie.«
Schritte erklangen im Flur. Hastige, kurze Schritte.
Eschenbach legte auf.
In ausgesuchten, langen Sätzen, erfüllt von Schmerz und großer Trauer, erklärte der Präsident, dass er diesen tragischen Vorfall zutiefst bedaure: »Man sieht nicht in die Herzen der Menschen, nicht einmal in die der allernächsten.«
Latscho kam nicht zur Sprache. Und weil ihn der Präsident nicht erwähnte, tat es Eschenbach auch nicht. Schweigend standen sie einen Moment am Fenster und blickten zu dem neuen Löwengehege im Zoologischen Garten hinüber. Eschenbach dachte an Kathrin und daran, dass er Corina wegen Kanada anrufen musste.
»Der Große dort, das ist Bhagirath.« Der Präsident machte eine Bewegung mit dem Kinn. »Ist schon ein alter Knabe … und die Löwin neben ihm heißt Saba. Wir nennen sie die Königin von Saba. Sie kennen die Geschichte bestimmt. Wir haben den größten Teil des Geheges finanziert vor zwei Jahren.«
»Und aus Saba wurde später der Name Elisabeth abgeleitet«, sagte Eschenbach mehr zu sich selbst.
»Wenn Sie es sagen«, erwiderte der Präsident freundlich.
Unten in der Halle, auf dem Weg nach draußen, lief der Kommissar wieder in Jagmetti hinein. »Gerade eben haben die Kollegen angerufen«, sagte der Bündner. »Aus Kilchberg. Sind jetzt in Elisabeth Koblers Haus. Hat sich erhängt, die Chefin …«
Eschenbach nickte kurz und sah Jagmetti an. »Hat sie etwas hinterlassen? Einen Brief … irgendwas?«
Claudio zuckte die Schultern. Er war sehr bleich. Seine schwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht. »Die Sache fährt mir gewaltig in die Knochen, verstehst du?«
»Ja, mir auch.«
Zwei Journalisten kamen auf Eschenbach zugestürmt. »Können Sie schon etwas sagen?«
»Schreiben Sie, was Sie wollen«, sagte der Kommissar. Und zu Claudio, den er kurz umarmte, meinte er leise: »Tut mir leid. Ist wohl schiefgelaufen, alles.« Dann machte sich Eschenbach auf den Weg zu seinem Wagen.
Weil es Mittag war, herrschte kaum Verkehr in den Straßen am Zürichberg. Eschenbach brauchte keine fünfzehn Minuten von der FIFA bis zu Lenzens Mühle. Er parkte seinen Wagen auf dem Kiesplatz, hievte einen Kanister Benzin aus dem Kofferraum und trug ihn den kurzen Weg hinunter zur Wohnung.
Die Kiste mit den Akten war noch da. Eschenbach öffnete sie. Alles war unverändert, wie er es zurückgelassen hatte. Er zog sein Jackett aus, nahm das zusammengefaltete Mäppchen mit den Papieren aus der Innentasche und legte es zu den grauen Ordnern. Dann krempelte er die Hemdsärmel hoch und machte sich an die Arbeit.
Zehn Minuten später hatte er es geschafft. Die Kiste stand unten im Garten, direkt neben der Grube vom Seerosenteich. Eschenbach goss Benzin über die Akten und wartete eine Weile, bis alles ausreichend durchtränkt war. Dann warf er, aus sicherer Entfernung, ein brennendes Streichholz hinein.
Ein dumpfer Knall ließ die Flamme hochschießen. Zufrieden ging der Kommissar zurück in die Wohnung. In der Küche fand er einen Bündner Salsiz und einen halben Laib hart gewordenes Roggenbrot. Er schnitt beides in dünne Scheiben, lud es auf einen Teller und ging hinaus zu Lenzens Sitzplatz. Kauend sah er den Flammen zu.
Nachdem er gegessen hatte und die Feuerstelle bereits eine erste Glut zeigte, rief er Lenz an.
Der Alte meldete sich persönlich, und so wie er sprach, schien es ihm besser zu gehen. »Rosa war heute fast den ganzen Tag bei mir.«
»Ein richtiger Glückstag, also«, meinte der Kommissar.
»Und stell dir vor … gestern Abend, da ist sogar Elisabeth Kobler vorbeigekommen und hat mich besucht.«
»Red keinen Blödsinn, Ewald. Das hast du geträumt.«
»Das hab ich zuerst auch gedacht, weil es in hundert Jahren nicht vorgekommen ist, dass die Chefin vorbeischaut. Bei mir
im Spital, und dann noch persönlich. Drum
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