Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
jeder von uns: Also ist noch nicht alles vorbei. Hätte ich nie von ihr erfahren, wäre es für mich viel schwerer hier.«
»Was haben sie denn für eine Zukunft? Dafür würde ich keiner Wahrsagerin auch nur einen Groschen geben …«
»Idioten! Als ob es Wunder gäbe! Das Leben ist kein weißes Boot mit weißen Segeln. Das Leben ist ein Haufen Scheiße mit Schokoladenguss.«
»Das, was sie sucht, was sie braucht, kann kein Mensch auf Erden ihr geben – nur Gott.«
Sie wurden im Gefängnis getraut. Alles war so, wie Lena es sich vorgestellt hatte: Kerzen, goldene Ringe … Der Kirchenchor sang Jesaja, freue dich!
Priester: Hast du, Wladimir, den guten und ungezwungenen Willen und den festen Vorsatz, diese Jelena, welche du hier bei dir siehst, zur Gattin zu nehmen?
Bräutigam: Ja, ehrwürdiger Vater!
Priester: Hast du dich keiner anderen Braut versprochen?
Bräutigam: Nein, ehrwürdiger Vater!
Priester: Hast du, Jelena, den guten und ungezwungenen Willen und den festen Vorsatz, diesen Wladimir, den du hier bei dir siehst, zum Gatten zu nehmen?
Braut: Ja, ehrwürdiger Vater!
Priester: Hast du dich keinem anderen Manne versprochen?
Braut: Nein, ehrwürdiger Vater.
Segne, Gebieter …
Ein Jahr später traf ich mich erneut mit Irina Wassiljewa.
Irina Wassiljewa
Unser Film lief im zentralen russischen Fernsehen … Es kamen Briefe von Zuschauern. Ich freute mich … aber … Es stimmt etwas nicht mit der Welt, in der wir leben. Wie es in einem Witz heißt: Unsere Menschen sind gut, aber unser Volk ist böse. Ich erinnere mich an Dinge wie: »Ich bin für die Todesstrafe – für die Verwertung menschlicher Abfälle.« »Solche Bastarde wie Ihren Protagonisten, den Supermann und Mörder, sollte man auf dem Roten Platz öffentlich vierteilen und in den Pausen Snickers-Werbung einblenden.« »… solche sollte man für Organspenden … an denen sollte man neue Medikamente und chemische Stoffe testen …« Laut Dahls Wörterbuch 4 kommt das Wort dobrota XLVIII von dobrowatj – im Überfluss leben, begütert … das bedeutet Stabilität und Würde … Das alles fehlt bei uns. Das Böse kommt nicht von Gott. Wie sagt Antonius der Große 5 : Gott ist nicht der Urheber des Bösen. Er hat dem Menschen den Verstand gegeben, die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden … Aber es gab auch … ich erinnere mich auch an schöne Briefe wie diesen: »Seit Ihrem Film glaube ich an die Liebe. Es gibt wohl doch einen Gott …«
Ein Dokument ist ein Impuls … und eine Falle … Für mich hat die dokumentarische Gattung einen sozusagen angeborenen Fehler: Wenn der Film abgedreht ist, geht das Leben weiter. Meine Protagonisten sind nicht ausgedacht, es sind lebendige, reale Menschen, und sie hängen nicht von mir ab – von meinem Willen, meinen Vorstellungen oder meiner Professionalität. Meine Anwesenheit in ihrem Leben ist zufällig und zeitlich begrenzt. Ich bin nicht so frei wie sie. Wenn ich könnte … Dann würde ich das ganze Leben eines einzelnen Menschen filmen. Oder einer Familie. Tag für Tag. Wie sie mit ihrem Kind an der Hand die Straße entlanglaufen … wie sie auf die Datscha fahren … wie sie Tee trinken und sich unterhalten, heute über das eine, morgen über etwas anderes … wie sie sich streiten … eine Zeitung kaufen … wie ihr Auto kaputtgeht … wie der Sommer zu Ende geht … wie jemand weint … Das erleben wir unmittelbar, aber vieles geschieht ohne unser Zutun. Unabhängig von uns. Einen Moment zu erfassen oder einen bestimmten Zeitabschnitt zu verfolgen ist mir zu wenig. Zu wenig! Ich kann nicht … es fällt mir schwer, mich zu trennen … Ich bin mit meinen Protagonisten befreundet, ich schreibe ihnen, rufe sie an. Wir treffen uns ab und zu. Ich »drehe« noch lange weiter, vor meinen Augen laufen immer neue Szenen ab. So habe ich schon Dutzende Filme »gedreht«.
Einer davon ist der Film über Lena Rasdujewa. Ich habe ein Notizbuch mit Aufzeichnungen. Eine Art Szenarium für einen Film, den es nicht geben wird …
… Sie leidet unter dem, was sie tut, aber sie kann nicht davon lassen.
… Es dauerte einige Jahre, bis sie sich entschließen konnte, seine Akte zu lesen. Aber sie war nicht entsetzt: »Das ändert nichts, ich liebe ihn trotzdem. Jetzt bin ich seine Frau vor Gott. Er hat einen Menschen getötet, weil ich damals nicht an seiner Seite war. Ich muss ihn an die Hand nehmen und ihn von dort wegführen …«
… Dort auf der Feuerinsel sitzt
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