Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
vorstellen … eine Familie, Kinder … Aus völliger Dunkelheit war ich in hellstes Licht geraten … ich war von Licht umgeben … Die Situation ist natürlich nicht normal: Sie hat einen Mann und drei Kinder und gesteht einem fremden Mann ihre Liebe, schreibt ihm Briefe. Wäre ich an der Stelle ihres Mannes … Ich würde …! »Bist du etwa verrückt?« »Es gibt keine Liebe ohne Selbstaufopferung. Was ist das sonst für eine Liebe?« Ich wusste nicht … Woher sollte ich wissen, dass es solche Frauen gibt? Woher denn – im Gefängnis? Es gibt Menschen, und es gibt Schweine, das ist alles. Sooft du den Menschen vertraust – hinterher stellt sich doch heraus, dass mehr Misstrauen besser gewesen wäre. Doch dann ist da plötzlich ein Mensch, wegen dem du nachts kein Auge zutun kannst … Nein, was es für Menschen gibt! Sie kommt her und weint und lacht. Und ist immer schön.
Bald heirateten wir. Dann beschlossen wir, uns auch vor Gott trauen zu lassen … im Gefängnis gibt es einen Andachtsraum … Vielleicht würde ein Schutzengel seinen Blick auf uns richten …
Bis ich Lena begegnete, habe ich alle Frauen gehasst, ich dachte, die Liebe, das seien nur Hormone. Körperliches Begehren … Doch sie hat keine Angst vor dem Wort Liebe, sie sagt oft: »Ich liebe dich! Ich liebe dich!« Dann sitze ich da und rühre mich nicht. Doch das alles … wie soll ich es sagen … Ich bin kein Glück gewöhnt. Manchmal glaube ich ihr. Ich möchte gern glauben, dass das alles wahr ist – dass man mich lieben kann, dass der einzige Unterschied zwischen mir und anderen Menschen der ist, dass sie sich für gut halten, aber der Mensch kennt sich selbst nicht, würde er sich richtig kennenlernen, wäre er entsetzt. Ich hätte ja von mir auch nicht gedacht, ich könnte … Was für ein Tier aus mir herausbrechen könnte … Niemals! Ich dachte, ich wäre ein guter Mensch. Bei meiner Mutter liegen noch Hefte mit meinen Gedichten, wenn sie die nicht verbrannt hat. Und manchmal … Da habe ich Angst … Ich habe zu lange allein gelebt, ich stecke in diesem Zustand fest. Das normale Leben ist weit weg. Ich bin böse und menschenscheu geworden … Wovor ich Angst habe? Ich habe Angst, dass unsere Geschichte – dass das nur ein Film ist, und das will ich nicht. Ich habe vielleicht gerade erst zu leben angefangen … Wir wollten ein Kind … Sie wurde schwanger. Und hatte eine Fehlgeburt. So hat Gott mich an meine Sünden erinnert …
Ich habe Angst … Solche Angst, dass ich manchmal mich selbst töten möchte, manchmal … »Ich habe Angst vor dir«, sagt sie. Aber sie geht nicht weg … Da haben Sie Ihren Film! Ja …
Aus Gefängnisgesprächen
»Sie ist verrückt! Verrückt! Die Dame braucht einen Psychologen …«
»Von solchen Frauen habe ich früher nur gelesen, von den Frauen der Dekabristen … Na ja, das ist Literatur! Aber im Leben … Lena ist der einzige Mensch dieser Art, den ich kenne. Und natürlich habe ich anfangs gedacht: Vielleicht ist sie ja nicht normal? Aber dann ist etwas in mir umgeschlagen … Jesus wurde auch für verrückt gehalten. Nein, sie ist normaler als alle Normalen!«
»Einmal konnte ich ihretwegen eine ganze Nacht nicht schlafen. Ich musste daran denken, dass ich auch einmal eine Frau hatte, die mich sehr liebte …«
»Das ist ihr Kreuz. Sie hat es auf sich genommen und trägt es. Eine echte russische Frau!«
»Ich kenne Wolodja … Den Bräutigam! Er ist genau so ein Bastard wie ich. Ich habe Angst um sie. Sie ist nicht so eine, die heiratet, und aus – leb du, wie du willst. Sie wird sich bemühen, eine gute Ehefrau zu sein. Aber was kann er ihr geben? Wir können niemandem etwas geben. Uns hüpfen ›blutige Knaben vor den Augen‹ 3 . Wir können nur eines: nicht nehmen, kein Opfer annehmen. Der ganze Sinn unseres Lebens besteht nur noch darin, nichts anzunehmen. Wenn man doch etwas nimmt, beraubt man wieder jemanden …«
»Sie ist ein glücklicher Mensch. Und sie scheut sich nicht, glücklich zu sein.«
»Also, in der Bibel … Da heißt Gott nicht Güte und nicht Gerechtigkeit … Er heißt Liebe …«
»Sogar unser Priester … Wenn er kommt und mir durchs Gitter die Hand gibt, zieht er sie so schnell wie möglich wieder zurück; er merkt das gar nicht, aber ich sehe es. Ist ja auch verständlich – ich habe Blut an den Händen … Doch sie ist die Frau eines Mörders geworden, hat sich ihm anvertraut, will alles mit ihm teilen. Und jetzt denkt
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