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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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sollte die Trauer sogar suchen …«
     
    Irina Wassiljewa erzählt weiter.
    Auch ich habe sie gefragt: »Lena, ist dir klar, dass du ihn nur zweimal im Jahr besuchen kannst?« »Na und? Das genügt mir. Ich werde in Gedanken bei ihm sein. Mit meinen Gefühlen.«
    Um ihn zu besuchen, muss man weit in den Norden fahren. Auf die Feuerinsel. Im 14. Jahrhundert gingen Schüler von Sergius von Radonesch 2 dorthin und erschlossen die nördlichen Wälder. Als sie sich durchs Dickicht schlugen, erblickten sie einen See und mitten im See Flammenzungen – so erschien ihnen der Heilige Geist. Mit Booten schafften sie Erde herbei, schütteten an dieser Stelle eine Insel auf und bauten darauf ein Kloster. Die Mauern sind anderthalb Meter dick. In diesem alten Kloster befindet sich heute ein Gefängnis für besonders gefährliche Mörder. Für zum Tode Verurteilte. An jeder Zellentür hängt ein Schild, darauf stehen die Verbrechen des Insassen: Erstach mit einem Messer die sechsjährige Anja … die zwölfjährige Nastja … Wenn man das liest, empfindet man Grauen, doch dann geht man hinein – und der einen begrüßt, wirkt wie ein ganz normaler Mensch. Er bittet um eine Zigarette, und man gibt sie ihm. »Was gibt’s Neues draußen? Hier drin wissen wir nicht mal, wie das Wetter ist.« Sie sind eingemauert. Ringsum Wälder und Sümpfe. Von dort ist noch nie jemand geflohen …
    Das erste Mal fuhr Lena dorthin, ohne daran zu denken, dass man ihr die Besuchserlaubnis verweigern könnte. Sie klopfte an das Fenster, wo die Besuchsscheine ausgegeben werden, da hörte man sie gar nicht an. »Da kommt der Chef. Reden Sie mit ihm.« Sie rannte zum Chef. »Erlauben Sie mir einen Besuch.« »Zu wem wollen Sie denn?« »Zu Wolodja Podbuzki.« »Wissen Sie denn nicht, dass hier gemeingefährliche Verbrecher sitzen? Bei uns herrschen strengste Regeln: Zwei dreitägige Besuche im Jahr und drei Kurzbesuche von zwei Stunden. Zugelassen sind nur die engsten Angehörigen: Mutter, Ehefrau, Schwester. In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm?« »Ich liebe ihn.« Klar – eine Verrückte. Der Chef wollte sich abwenden, doch sie hielt ihn fest. »Verstehen Sie, ich liebe ihn.« »Sie sind für ihn eine vollkommen Fremde.« »Dann lassen Sie mich ihn wenigstens sehen.« »Was denn, Sie haben ihn noch nie gesehen?« Alle amüsieren sich schon, auch die Wachposten sind dazugekommen – was ist das denn für eine Irre? Haha … Da erzählt sie ihnen von ihrem Traum, den sie mit achtzehn hatte, von ihrem Mann und den drei Kindern und davon, dass sie ihr ganzes Leben nur diesen Mann liebt. Ihre Aufrichtigkeit und Reinheit können Steine erweichen. In ihrer Gegenwart wird sich der Mensch bewusst, dass etwas in seinem ach so richtigen Leben nicht stimmt – dass er ein grober Klotz ist, ohne feinere Gefühle. Der Gefängnischef ist nicht mehr jung, und die Arbeit dort … er hat schon alles Mögliche erlebt … Er versetzte sich in ihre Lage. »Da Sie nun schon mal den weiten Weg gemacht haben, gebe ich Ihnen sechs Stunden für einen Besuch, aber es muss ein Aufseher dabei sein.« »Meinetwegen zwei! Ich werde sowieso nur für ihn Augen haben …«
    All ihre übermäßigen, maximalistischen Gefühle ergoss sie über diesen Wolodja. »Stell dir vor, wie glücklich ich bin … Ich habe das ganze Leben auf dich gewartet, und nun sind wir endlich zusammen.« Der war darauf natürlich nicht vorbereitet. Er bekam regelmäßig Besuch von einer Baptistin, hatte ein Verhältnis mit ihr. Das war eine klare Sache – eine ganz normale, unglückliche junge Frau. Sie wollte einen Mann und einen Stempel im Ausweis: verheiratet. Doch nun – dieser gewaltige Gefühlssturm! Vor einer derart besitzergreifenden Energie erschrickt jeder. Er war fassungslos … »Ich bitte dich«, sagte Lena, »erlaube mir, dich zu heiraten.« »Aber du bist doch verheiratet?« »Ich lasse mich scheiden. Ich liebe nur dich.« Sie hatte eine Tasche mit seinen Briefen dabei, die mit kleinen Hubschraubern und Blumen bemalt waren. Sie konnte sich keinen Augenblick davon trennen. Diese Briefe waren der Gipfel ihres Glücks. Sie hatte ihr Leben lang nach dem Absoluten gestrebt, doch das Absolute existiert nur in schriftlicher Form, nur auf dem Papier wird es erreicht. In der Wirklichkeit, im Bett existiert es nicht. Dort gibt es nichts Absolutes. Alles, was mit anderen Menschen zu tun hat – Familie, Kinder –, ist ein Kompromiss.
    Es ist, als würden sie von etwas angetrieben … Was ist das

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