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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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für eine Kraft? Von welcher Art ist dieser Traum?
    Auch wir waren auf der Feuerinsel. Dafür brauchten wir viele Papiere und Genehmigungen mit runden Stempeln. Viele Telefonate. Dann waren wir da … Wolodja empfing uns feindselig. »Was soll diese Show?« Er hatte viele Jahre in Einsamkeit verbracht, er war keine Menschen mehr gewöhnt. Er war argwöhnisch, traute niemandem. Gut, dass Lena mitgekommen war, sie nahm seine Hand, sagte »Wolodenka«, und er wurde sanft wie ein Lamm. Gemeinsam konnten wir ihn zu einem Gespräch überreden – aber vielleicht hatte er es sich auch selbst überlegt, er ist ja ein gescheiter Bursche: Nach fünfundzwanzig Jahren gibt es in Ausnahmefällen eine Begnadigung, und wenn ein Film über ihn gedreht wird, dann wird er eine lokale Berühmtheit, das könnte hilfreich sein … Alle dort wollen leben … sie reden nicht gern über den Tod …
    Genau da setzten wir an …
Von Gott
     
    Ich saß in Einzelhaft und wartete auf die Erschießung. Ich dachte viel nach … Wer hilft dir schon in diesen vier Wänden? Die Zeit existierte nicht mehr, sie war nur noch abstrakt. Ich empfand eine solche Leere … Und eines Tages brach es aus mir heraus: »Wenn es dich gibt, Herr, dann hilf mir! Lass mich nicht allein! Ich bitte dich nicht um Wunder, aber hilf mir zu verstehen, was mit mir geschehen ist.« Ich fiel auf die Knie und betete. Der Herr lässt niemanden lange warten, der sich an Ihn wendet …
    Lesen Sie meine Akte – ich habe einen Menschen getötet. Ich war achtzehn Jahre alt. Ich hatte gerade die Schule beendet, ich schrieb Gedichte. Ich wollte nach Moskau gehen, studieren. Dichter wollte ich werden. Meine Mutter war mit mir allein. Wir hatten kein Geld, mein Studium musste ich mir selbst verdienen. Ich suchte mir Arbeit in einer Autowerkstatt. Abends ist im Dorf oft Tanz … Na, und da verliebte ich mich in ein hübsches Mädchen. Ich war total verknallt. Eines Abends kamen wir vom Tanz … Es war Winter … es lag Schnee … In den Fenstern leuchteten schon Tannenbäume, es war kurz vor Silvester. Ich war nicht betrunken. Wir liefen und unterhielten uns. Haha … hihi … Sie fragte: »Liebst du mich wirklich?« »Ich liebe dich mehr als mein Leben.« »Was würdest du für mich tun?« »Ich würde mich töten.« »Dich selber, klar. Aber würdest du für mich den Erstbesten töten, der dir begegnet?« Vielleicht war das ein Scherz … vielleicht war sie einfach ein Luder … Ich erinnere mich nicht mehr an sie, nicht mal an ihr Gesicht; sie hat mir kein einziges Mal ins Gefängnis geschrieben. Könntest du töten? Das fragte sie und lachte. Und ich war schließlich ein Held! Ich musste ihr meine Liebe beweisen. Ich riss einen Pfahl aus einem Zaun … Es war Nacht. Stockfinster. Ich stand da und wartete. Sie auch. Lange ließ sich niemand blicken, dann kam endlich irgendwer auf uns zu. Ich schlug ihn auf den Kopf. Bumm! Einmal, noch einmal … Er fiel hin. Als er am Boden lag, schlug ich weiter zu, bis er tot war … mit diesem Pfahl … Es war unser Lehrer …
    Erst wurde ich zum Tode verurteilt … Nach einem halben Jahr wurde die Todesstrafe in lebenslänglich umgewandelt. Meine Mutter sagte sich von mir los. Meine Schwester schrieb mir eine Zeitlang, dann nicht mehr. Ich bin schon lange allein … In dieser Zelle sitze ich nun schon siebzehn Jahre hinter Schloss und Riegel. Siebzehn Jahre! Ein Baum zum Beispiel oder ein Tier – die wissen nichts von der Zeit. Für sie denkt Gott. So geht es auch mir … Schlafen, essen, Spaziergang … Den Himmel sehe ich nur durch ein Gitter. In der Zelle – ein Bett, ein Hocker, eine Blechtasse, ein Löffel … Andere leben von ihren Erinnerungen … Aber woran soll ich mich erinnern? Ich habe ja nichts, ich habe ja noch gar nicht richtig gelebt. Wenn ich zurückschaue – da ist nichts als Dunkelheit, nur ab und zu ein kleines Licht. Meistens sehe ich meine Mutter … am Herd oder am Küchenfenster … Aber sonst – alles dunkel …
    Ich fing an, die Bibel zu lesen … ich konnte mich nicht losreißen … Ich zitterte am ganzen Leib. Ich sprach mit Gott: »Wofür hast Du mich so bestraft?« Der Mensch dankt dem Herrn für die Freude, aber wenn es ihm schlechtgeht, schreit er: »Wofür?« Anstatt den Sinn der ihm gesandten Prüfung zu verstehen. Und sein Leben in Gottes Hand zu legen …
    Und plötzlich tauchte Lena auf … Sie kam her und sagte: »Ich liebe dich.« Da tat sich vor mir eine ganze Welt auf … Ich konnte mir alles Mögliche

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