Vom Wahn zur Tat
EINFÜHRUNG
Der 22. Juli 2011 ist ein katastrophaler Tag für Norwegen: Andreas Behring Breivik, ein bis dahin relativ unauffälliger, zurückgezogen lebender junger Mann, verübt in Oslo und auf der Ferieninsel Utoya seine von langer Hand geplanten Anschläge. Einer Autobombe in der Hauptstadt folgt ein Massaker in einem sozialdemokratischen Jugendcamp. 77 Tote fordern die Anschläge insgesamt. Breivik wird noch am Tatort seines Massenmordes festgenommen. Bereits wenige Stunden später meldeten sich die ersten Experten im Fernsehen und in den Printmedien zu Wort. Das große Rätselraten, was die Ursache einer derartig unfassbaren Tat sein könnte, begann. Taten wie diese hinterlassen einen Sprung in unserem Weltbild. Zwar sind wir tagtäglich damit konfrontiert, dass in Ländern wie dem Irak oder Pakistan alle paar Tage dutzende Menschen das Opfer von Terroranschlägen oder Stammeskämpfen werden, aber so etwas im „zivilisierten“ Europa, begangen von einem Europäer an Europäern? Wer war also Andreas Behring Breivik, was haben wir uns für einen Menschen vorzustellen, der, von langer Hand geplant, derart grausame Taten begehen konnte, ohne eine spürbare affektive Beteiligung zu zeigen? Unter den vielen Mutmaßungen, die über seinen Geisteszustand und seine Persönlichkeit aufgestellt wurden, fand sich am häufigsten die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie. Nun ist es freilich nicht unproblematisch, Ferndiagnosen zu treffen, und es ist im Allgemeinen unzulässig, aus der Art der Tat eins zu eins Rückschlüsse auf den Geisteszustand des Täters zu ziehen. Ich hatte vorsichtige Zweifel an der Richtigkeit der Diagnose, ohne jedoch denselben Fehler begehen zu wollen, den ich bei anderen kritisiert hatte. Das, was ich jedoch relativ leicht feststellen konnte und kann, ist, dass ein Verbrechen wie jenes, das Breivik verübt hatte, nicht typisch für die Taten von Menschen ist, die unter einer Schizophrenie leiden.
Viel häufiger finden sich Konstellationen wie der Fall eines 34-Jährigen, der im August 2011 im Parlament eine Geisel nahm. Um ein Gespräch mit Bundespräsident Heinz Fischer zu erzwingen, brachte der Asylwerber im August 2011 ein weibliches Mitglied des Sicherheitsdienstes im Parlament in seine Gewalt. Erst eine Einsatzgruppe der Polizei konnte den Iraner überwältigen. Warum er mit dem Bundespräsidenten reden wollte, konnte aus seinen Angaben nicht schlüssig erklärt werden. Der ORF berichtete: „Er wollte dem Bundespräsidenten mitteilen, dass er der Vater von Strache und Jesus ist, er wollte von ihm wissen, wo sein millionenschweres Vermögen ist, das im Übrigen von der Jungfrau Maria bewacht werde. Zudem habe Österreich das Problem, kein Erdöl zu besitzen und es habe seit 32 Tagen kein WC mehr gegeben. In der kanadischen Botschaft würden sieben Geiseln festgehalten.“ Der Mann wurde in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher untergebracht. Ein Gutachten bescheinigte ihm Schizophrenie mit Wahnvorstellungen.
In meiner zwanzigjährigen Tätigkeit in der Forensischen Psychiatrie hatte ich die Gelegenheit, etwa zweihundert schizophrene Straftäter kennenzulernen. Oft waren es langjährige, regelmäßige Kontakte, in denen ich tiefe Einblicke in die Persönlichkeit, die Krankheit und die Tatmotive dieser Menschen gewinnen konnte. Bei allen Unterschieden, die sich dabei ergaben, fand sich doch eine Gemeinsamkeit: Die Mehrzahl der Delikte geschah spontan oder aufgrund des Bedürfnisses, sich gegen eine vermeintliche Bedrohung zur Wehr zu setzen. Längerfristig geplante Taten fand ich nicht. Ich möchte allerdings keineswegs ausschließen, dass es äußere Situationen und innerpsychische Konstellationen gibt, die einen Menschen, der unter einer Schizophrenie leidet, dazu bringen, von langer Hand derartig wohlkalkulierte Taten zu planen und durchzuführen. Es sollte uns jedoch klar sein, dass es sich hierbei keinesfalls um eine Tat handelt, die charakteristisch für diese Patientengruppe ist. Diese Überlegungen veranlassten mich schließlich, das hier vorliegende Buch zu schreiben. Die Taten von schizophrenen Menschen sind oft bizarr und auf den ersten, manchmal auch auf den zweiten Blick unverständlich, Massen- und Serienmörder findet man hier jedoch für gewöhnlich nicht. Wie wir aus verschiedenen, vorwiegend amerikanischen Studien wissen, werden Serien- und Massenmorde zumeist von Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen begangen. Ich möchte daher die Diskussionen,
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