Seegrund
Das alles sah aus wie eine gespenstisch verzerrte Version der Forschungsarbeiten, die bis vor kurzem hier noch stattgefunden hatten.
Plötzlich erhob sich neben ihm Friedel Marx aus dem Schnee, drehte sich zu den anderen, flüsterte »Zugriff!« und wollte den kleinen Abhang hinunterstürzen. Kluftinger schaffte es gerade noch, sie an ihrem Mantel wieder nach unten zu reißen: »Halt’s Maul«, schrie er lauter als er es eigentlich wollte. Diese Frau würde sie noch alle ins Grab bringen. »Ich hab doch gesagt, wir warten auf …« Kluftinger verstummte. Einer der Männer hatte sich aus der Gruppe gelöst und lief in ihre Richtung.
»Ducken«, raunte er den anderen zu und sie gingen auf Tauchstation. Mehrere Minuten wagten sie nicht, sich aus ihrer kauernden Stellung zu erheben. Erst dann machte Kluftinger seinen Hals lang und spähte vorsichtig nach unten. Die Männer standen alle wieder mit dem Rücken zu ihnen da. Der Kommissar atmete tief durch und entspannte sich etwas. Er warf Friedel Marx einen tadelnden Blick zu.
»Herrgottsakrament, was ist denn eigentlich Ihr Problem? Wollen Sie, dass wir …«
»Sie haben die zweite!« Der laute, entzückte Schrei eines der Männer bei dem Kleinbus unterbrach Kluftingers geflüsterte Strafpredigt.
Die zweite? Hatte er die Wortfetzen richtig identifiziert? Der Wind stand günstig und trug die Stimmen nun deutlicher in ihre Richtung. Der Kommissar spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. Er blickte sich um. Auch die anderen hatten es gehört und ihre Mienen verrieten ihre Anspannung.
»Abwarten«, formten Kluftingers Lippen lautlos.
Der Monitor war viel zu weit weg, als dass die Beamten auch nur annähernd hätten erkennen können, was auf dem kleinen Bildschirm zu sehen war. Doch Kluftinger konnte sich schon denken, was es war. Er hatte die Übertragungen des Roboters schließlich bereits zwei Mal live miterlebt – denn zweifellos war es der vermisste Roboter, der ihnen die Bilder auf den Monitor schickte.
Der Mann mit dem Funkgerät schrie nun wieder in dieses hinein:
»Ja, ich geb euch die Position durch, hörst du?« Anschließend nannte er ein paar Zahlen und Himmelsrichtungen. »Und jetzt bringt den Pressluftballon runter! Genauso wie vorher, nicht, dass der Gurt abrutscht!«
Kluftingers Herz schlug bis zum Hals. Er spürte die Kälte kaum noch, so aufgeregt war er. Was würden die Männer im See bergen? Würde nun endlich das letzte Geheimnis des Seegrunds gelüftet?
Plötzlich bewegten sich die kleinen Fichten am Rand des Ufers und Schnee stob auf. Zwei weitere Männer traten auf die Gruppe zu.
Erst als sie nah genug am Monitor waren, der einen fahlen Lichtschein auf die Gesichter warf, erkannte Kluftinger einen von ihnen: Es war Norbert Schnalke, der Schamane.
Er schluckte. Hatte dieser ein wenig beschränkt wirkende Öko sie alle an der Nase herumgeführt?
Doch Kluftinger kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu verfolgen, denn die kräftige Gestalt, die Schnalke folgte, versetzte dem einen derart heftigen Stoß ins Kreuz, dass er der Länge nach hinfiel.
»Der ist hier rumgeschlichen«, sagte der Mann verächtlich. Und nach einer Pause fügte er an: »Was sollen wir mit ihm machen?«
»Ich bin nicht rumgeschlichen, ich habe hier eine Hütte. Und ich habe nichts gesehen, nichts, wirklich! Mir geht es nur um die Seele des Sees.« Das Wimmern, das Schnalke dann anstimmte, verhallte im Heulen des Windes.
Gleichzeitig mit den Polizisten stießen auch die alten Männer einen Fluch aus. »Was sollen wir mit ihm machen?«, fragte Appel ratlos in die Runde.
Johann Röck, auf einen Stock gestützt, antwortete mit versteinerter Miene: »Tut, was ihr tun müsst. Er muss schweigen.«
Danach trat eine Stille ein, in der nur das Ächzen der Äste über ihnen zu hören war. Dann nickte der breitschultrige Mann und griff Schnalke grob am Arm.
»Nein, ich hab wirklich nichts gesehen. Gar nichts! Ich schwör’s!«
Die Stimme des sonst so sanft auftretenden Schamanen überschlug sich. Schrill flehte er die Männer an, ihm nichts zu tun, offenbar befürchtete er das Schlimmste. Ebenso wie Kluftinger, der jetzt sofort eine Entscheidung fällen musste.
Er drehte sich zu seinen Kollegen um, die ihm zunickten, noch ehe er etwas sagte. Langsam holte er seine Waffe aus dem Holster, versicherte sich, dass auch die anderen ihre Pistolen in der Hand hatten, stand auf, holte tief Luft und stürzte sich den schneebedeckten Abhang hinunter.
Sie waren noch nicht ganz unten,
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