Seegrund
Polizisten über das weitere Vorgehen instruierte, musste er laut sprechen, denn der Wind blies so stark, dass er kaum sein eigenes Wort verstand. Sein Stille-Gebot, das er gerade ausgegeben hatte, kam ihm plötzlich lächerlich vor.
»Habt ihr eure Waffen?«, fragte er. Alle nickten – bis auf Friedel Marx.
»Ich … ich weiß gar nicht, wo ich meine hab«, stotterte sie. Es war ihr sichtlich unangenehm, doch auch wenn es Kluftinger in dieser Situation ärgerte, hatte er doch Verständnis für seine Kollegin. Auch er trug seine Dienstwaffe so wenig wie möglich mit sich herum. Wortlos drehte er sich um, öffnete den Kofferraum seines Wagens, holte etwas hervor und ging damit zu Marx.
»Hier. Besser als nix.« Mit diesen Worten reichte er ihr das Eisen, das der Roboter vor wenigen Tagen aus dem See gefischt hatte.
Endlich gab Kluftinger das Zeichen zum Aufbruch und alle folgten ihm. Tief gebeugt und gegen den Wind gestemmt liefen sie in Richtung Seeufer. Sie hatten das Wasser noch nicht ganz erreicht, da nahm Kluftinger im Augenwinkel ein seltsames Flackern wahr. Als er den Kopf drehte, wollte er zuerst nicht glauben, was er sah: Seine Füssener Kollegin versuchte verzweifelt, im Schutz ihrer hohlen Hand einen Zigarillo anzuzünden, den sie sich bereits in den Mund gesteckt hatte.
Die Schlampigkeit mit der Dienstwaffe hatte er ihr durchgehen lassen, doch nun fauchte er sie an: »Sind Sie wahnsinnig? Sie können sich ja gerne umbringen mit diesen Dingern, aber uns lassen Sie bitte aus dem Spiel. Wenn das jemand sieht …«
Weil sie nicht sofort reagierte, nahm Kluftinger ihr kurzerhand den Glimmstängel aus dem Mund und warf ihn in den Schnee. Dann ging er wortlos weiter. Seine Kollegin kam nicht dazu, zu protestieren, denn er hob die Hand zum Zeichen, dass sie nun besonders vorsichtig sein müssten, weil sie aus dem Schutz der Bäume heraustraten. Der Kommissar wagte sich als Erster vor und bedeutete den anderen, in der Deckung des Wäldchens zu warten. Nur noch ein kleiner Abhang lag zwischen ihm und dem See, der wie eine riesige schwarze Träne in der Schneehölle vor ihnen lag. Die Schneeflocken, die auf der Wasseroberfläche auftrafen, schienen sich lautlos in seinen unheimlichen Tiefen aufzulösen. Erst sah er nur die peitschenden Flocken, doch dann entdeckte er als Schattenriss ein Boot. Etwa fünfhundert Meter rechts von ihnen schien es still auf dem See zu liegen. Kluftinger kniff die Augen zusammen und glaubte sogar zu erkennen, dass in dem Boot jemand saß. Langsam ging er rückwärts in den Wald und berichtete den anderen.
»Hast du sonst noch jemanden gesehen?«, fragte Strobl. Auf seinem Haarschopf lag eine dicke Schneeschicht, was ihm ein seltsam fremdes Aussehen verlieh.
»Nein, ich kann das Ufer nicht einsehen. Wir müssen weiter nach da drüben.« Kluftinger streckte die Hand aus und ging voraus. Wieder folgten ihm die anderen, eine stumme Prozession im eisigen Sturm. Sie kamen nur langsam voran, weil sie nicht auf dem Weg gingen, sondern im Wald durch den knietiefen Schnee marschierten.
Kluftinger sah sich um: Alle waren dicht hinter ihm. Fast alle, denn Marlene Lahm hatte mit dem Fortkommen am meisten Schwierigkeiten und ihre ungelenke Art, mit der sie in ihren Stiefeln durch den Schnee stakste, amüsierte den Kommissar für einen kurzen Moment. Doch sein Lächeln verschwand sofort, als vom Ufer Stimmen zu ihnen herauf drangen.
Der Kommissar legte einen Finger auf seine Lippen und deutete in die Richtung, aus der die Gesprächsfetzen gekommen waren. Sofort duckten sich seine Begleiter und pirschten sich an die Baumgrenze heran. Friedel Max bezog so nahe bei ihm Stellung, dass Kluftinger ihren Atem in seinem Nacken spüren konnte. Dann hoben sie vorsichtig die Köpfe.
Zwei Meter unter ihnen, gleich am Seeufer, standen alte Bekannte: Wagner, Appel, Röck und die anderen drei Alten, die vorgestern noch in seinem Büro gesessen hatten. Sie trugen dicke Mäntel, einige von ihnen auch Pelzmützen, doch Kluftinger hatte sie sofort erkannt. Bei ihnen waren noch zwei deutlich jüngere Männer, die der Kommissar noch nie gesehen hatte. Sie starrten auf einen Monitor, der im Inneren eines VW-Busses stand. Vor der offenen Schiebetür des Wohnmobils war eine Markise ausgefahren, die sie vor dem Unwetter schützte. Einer der beiden Unbekannten hielt ein Funkgerät in der Hand und sprach etwas hinein, was Kluftinger nicht verstand. Am Ufer lag ein weiteres Boot, ein Schlauchboot mit Außenbordmotor.
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