Seelenfeuer
rasch.
»Dann geht hinauf und schickt nach Michel Weidacher, oder wollt Ihr mir helfen, den Leichnam nach oben zu schleppen?«
Stauber riss vor Schreck die Augen auf und verschwand ohne ein weiteres Wort.
Johannes führte seinen Araber am Halfter und ließ ihn nur sehr langsam gehen. Er hatte den Rücken des Tieres mit einem Schaffell gepolstert, ehe er Luzia bäuchlings vor den Sattel legte. Pünktlich zur Öffnung der Stadttore erreichte er das Frauentor. Niemand kam ihm oder seinem Pferd zu nahe. Die Menschen wichen zurück. Jeder konnte die schaurige Last des Medicus deuten und wusste, dass der Arzt im Begriff war, einen weiteren Pesttoten hinaus vor die Stadtmauer zu bringen.
»Pest?«, fragte der Torwächter, dessen Wams noch die Flecken der Morgensuppe trug, knapp.
Johannes nickte.
»Der alte Burger. Für ihn ist jede Hilfe zu spät gekommen.«
»Dann seht zu, dass Ihr weiterkommt!«, ordnete der Wachmann an und ließ den Medicus noch vor allen anderen passieren.
Ein kühler Luftzug streifte seine Wange, als Kaplan Grumper im Morgengrauen auf dem Wehrgang erwachte. Mühsam befreite er sich aus der unbequemen Lage und rieb sich die Augen. Er hatte tatsächlich geschlafen! Und heute schrieben sie den neunten des Herbstmondes – St. Dionys. In wenigen Stunden würde die Hexe endlich den Feuertod sterben, und er wäre wieder frei! In freudiger Erwartung ließ er seinen Blick über die Brüstung schweifen. Unter ihm ragten die angespitzten Pfähle, die Stadtmauer und Wehrgang umgaben, wie eine Reihe scharfer Zähne aus dem Boden. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fingen sich im Morgentau, der die scharfkantigen Spitzen zum Leuchten brachte. Kaplan Grumper rieb sich die klammen Hände und sah in die Ferne.
Sein Blick blieb an einem schwarzgekleideten Mann hängen. Er führte sein Pferd am Zügel, und über dem Pferderücken hing ein lebensgroßes Bündel, das auf die Entfernung wie ein in Leinen gewickelter Leichnam wirkte. Grumper fragte sich, was der Mann dort draußen, weitab von den großen Gräbern der Pesttoten, mit einem Leichnam zu schaffen hatte. Weil ihn die hellen Sonnenstrahlen blendeten, beschattete er seine Augen, und als der kalte Herbstwind mit eisiger Hand unter seinen Mantel fuhr, sah er sie. Die Hexe – sie war entkommen! Er hatte es immer wieder geträumt, und Bruder Heinrich hatte ihm keinen Glauben geschenkt. Der dunkel gekleidete Mann war Johannes von der Wehr, jetzt erkannte er auch ihn! Grumper wollte seinen Augen nicht trauen. Nun saß die Gassnerin nackt auf dem Rücken des Hengstes. Die Sonnenstrahlen fingen sich in ihrem fuchsroten Haar, das ihr wie ein kupferner Mantel um den Leib fiel.
Die schwarze Katze, die plötzlich unter dem Wehrgang auftauchte, ließ ihn zurückschrecken. So nah war die Erlösung bereits gewesen! Doch nun hatte sich die Hexe aus dem Kerker befreit und verhöhnte ihn von dort unten. Ihre Stimme erhob sich wie ein alles vernichtender Wirbelsturm und gellte in seinem Kopf. »Ich verfluche dich für alle Zeiten und durch alle Leben, bis ans Ende aller Tage!«, dröhnte es unter seiner Schädeldecke. Mit den Händen an den Ohren rannte der Kaplan den Wehrgang entlang. Jeder Schritt wurde zur Qual, jeder Atemzug ein kleiner Tod. Die Hexe war überall. Der zarte Windhauch hüllte ihn in den schweren, salzigen Duft, der die Gassnerin umgab.
Jemand musste die beiden aufhalten, denn er sah, wie sie bereits von den ersten Bäumen verschluckt wurden. Plötzlich
schien ihr Gesicht ganz nah zu sein. Zum Greifen nah. Ihr Haar leuchtete. Sie lachte und erfreute sich an seiner Pein. Besessen von der Vorstellung, die Hexe würde ihn quälen, solange er lebte, stürzte er auf die niedrige Brüstung zu und griff in wildem Zorn nach diesem Teufelsweib. Jetzt war sie direkt vor ihm. Er musste lediglich die Hände um ihren Hals legen. Fast spürte Kaplan Grumper Erlösung, als seine Füße die Verbindung zum Boden verloren.
Während ihm sein eigener Schrei in den Ohren gellte, stürzte er in die Tiefe.
Der unvorstellbare Schmerz, der das schmatzende Geräusch begleitete, öffnete ihm die Tür zur Realität. Einer der Pfähle im Durchmesser seines eigenen Handtellers hatte ihn in Höhe des Magens aufgespießt. Nun schwebte er zwischen Himmel und Erde, und mit jedem seiner letzten Atemzüge bohrte sich das Holz ein wenig tiefer durch seinen Leib. Blut quoll aus seinem Mund und tropfte vor ihm auf die feuchte Erde. Der todbringende Schmerz raste durch seine
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