Seelenhüter
hell.
Selbst der Große Fluss erschien jeder Seele anders. Für einige von ihnen war es ein kleiner See mit einer silbrig schillernden Oberfläche, für andere ein glucksender Bach oder ein weiter Ozean. Auch der Captain und sein Schiff nahmen für jede Seele eine andere Form an, von einem ausgehöhlten Baumstamm über eine ägyptische Barke mit einem federverzierten Baldachin bis hin zu einem Wikingerschiff mit Drachenkopf, der durch die Wellen pflügte, oder einer venezianischen Gondel in Schwarz und Gold, die sanft im Nebel schaukelte. Der Captain trug wahlweise Satinroben oder schwarzes Sackleinen. Grimmig wie ein Pirat oder gütig wie ein Priester. Riese oder Kobold. Doch für Calder war er immer der Captain.
Als der Schauspieler auf das Meer hinausblickte, kam ein kleines Schiff mit einer Seejungfrau als Galionsfigur über die sanften Wellen der Bucht gefahren und legte am Strand an. Der Captain, in einer purpurfarbenen und roten Uniform, stand breitbeinig vor den weißen Segeln wie ein leuchtendes Banner.
»Hiermit übergebe ich diese Seele in deine Obhut«, sagte Calder.
»Von nun an werde ich sie begleiten«, erwiderte der Captain. »Gott sei mit dir.«
»Und mit dir.«
Die Worte waren immer dieselben, das Loslassen der Seele dagegen war jedes Mal anders – manche von ihnen hatten Calder schon in dem Moment vergessen, in dem sie das Schiff betraten, andere klammerten sich an ihn und baten den Captain verzweifelt, ihren Begleiter mitnehmen zu dürfen.
Der Schauspieler griff nur nach Calders Hand und schüttelte sie. »Danke«, sagte er. »Danke, dass du mich zuerst geholt hast, vor der Frau.«
Calder zog seine Hand zurück. So etwas war noch nie zuvor geschehen. Die Seelen konnten keine anderen sterbenden Seelen sehen, und die Begleiter konnten niemals zwischen zwei verschiedenen Todestüren wählen.
Der Schauspieler lächelte. »Du kannst jetzt zu ihr gehen«, sagte er.
Calder blickte zum Captain hinüber – nichts auf dessen Gesicht deutete darauf hin, dass er ihr Gespräch hörte.
»Wen meinst du?«
Der Schauspieler rannte zu dem Schiff und sprang mit einem jungenhaften Satz an Bord. »Die mit dem rotblonden Haar«, rief er fröhlich zurück.
Als das Schiff auf den Wellen davonglitt, wandte sich der Captain um und ließ seinen Blick auf Calder ruhen, neugierig und dunkel.
Der Mann spricht wirres Zeug,
dachte der Seelenhüter.
Der Captain wird ihm keine Beachtung schenken.
Er wollte dies unbedingt glauben, doch er zitterte vor Angst, als er die nächste Tür öffnete. Normalerweise überkam ihn eine tiefe Traurigkeit am Ende der Passage, wenn er die Seele aus seiner Obhut in die des Captains übergeben musste, doch diesmal war er froh, durch die nächste Tür treten zu können. Trotz der verwirrenden Wendung, die die Ereignisse genommen hatten, schien Calders Tag sich dem Ende zuzuneigen. Die Tür öffnete sich zu seinem Gebetszimmer.
* * *
Da er Calder gehörte, änderte dieser Raum sein Aussehen nie, und außer dem Seelenhüter und seinem jeweiligen Begleiter hatte ihn bisher nur der Captain betreten. Calder hatte seine Kameraden nie gefragt, wie ihre Räume aussahen. Das wäre eine viel zu private Frage gewesen.
Der Gebetsraum war klein und rechteckig. Die Läden des Fensters, das nach Süden ging, waren weit geöffnet, und die Tür nach Westen, durch die der Captain üblicherweise den Raum betrat, war angelehnt. Hier herrschte immerzu Dämmerlicht. Nur einige milde Sonnenstrahlen verweilten noch am Himmel, eine leichte Brise zog vom Großen Fluss herauf, und weit draußen war das beruhigende Schlagen der Wellen zu hören. Das Zimmer war komplett leer, Wände, Boden und Decke erstrahlten in hellem Weiß. Für Calder war es der friedlichste Ort, den er sich nur vorstellen konnte, weshalb es auch sein Gebetsraum war. Doch in dieser Nacht fand er keinen Frieden.
Auf die Seelenhüter warteten große Belohnungen. So teilte jeden Tag ein Begleiter die Freude einer sterbenden Seele darüber, dass sie in die Freiheit entlassen wurde. Gelangten die Begleiter selbst eines Tages im Himmel an, gewährte man ihnen einen hochrangigen Platz zur Linken Gottes, wie die begünstigten Ritter der Tafelrunde.
Allerdings hatten sie auch einige Bürden zu tragen, manche gar täglich, wie etwa die Einsamkeit. Eine davon war eng mit der letzten Belohnung verbunden, denn im Himmel verlor der Begleiter seine Identität und wurde anonym. Nur seine Kameraden, der Captain und Gott kannten ihn und seine
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