Seelenhüter
waren strahlende Erscheinungen gewesen, genau wie Glory. Beinahe seit Beginn seines Lebens als Begleiter war er auf der Suche nach einem Lehrling, doch er war zu vorsichtig. Nicht nur, weil er keine unkluge Wahl treffen und eine ähnlich untalentierte Seele wie sich selbst ausbilden wollte, sondern auch, weil er später im Jenseits neben seinem Lehrling sitzen würde. Calder wäre stolz, neben seinem Lehrmeister Liam Platz nehmen zu dürfen, doch er studierte die Gesichter der Sterbenden immer sehr aufmerksam, auf der Suche nach einem Zeichen oder einem bekannten Gesicht.
Der Schauspieler hatte aufgehört zu atmen, auch das Herz schlug nicht mehr, nur die Seele bebte noch in seinem schmerzenden Fleisch. Als Calder erkannte, dass er das Leiden des Schauspielers bloß in die Länge zog, verschloss er seinen Geist vor den Gedanken an Glory und beugte sich nah an das Ohr des jungen Mannes.
»Hab keine Angst«, flüsterte er. Endlich legte sich der Wind um sie herum. Der Schauspieler setzte sich auf, wobei er seinen Körper hinter sich ließ, und streckte seinem Begleiter die Hand entgegen wie ein überraschtes Kleinkind, das beim Aufwachen in die Luft greift.
»Komm mit mir«, sagte Calder und ergriff die Hand. Es spielte keine Rolle, welche Sprache der Schauspieler auf Erden gesprochen hatte, auf der Passage in den Himmel verstand man alle Sprachen. Der Tote betrachtete den Seelenhüter erfreut und erhob sich endgültig aus seinem abgelegten Körper. Die Geistergestalt des Mannes war so alt wie seine sterblichen Überreste, doch stark und unverletzt.
Wenn eine Seele die Welt hinter sich lässt, wählt sie ihre neue Form selbst. Manche behalten das Aussehen ihres Körpers zum Todeszeitpunkt, manche werden jünger, manche heilen abgestorbene Gliedmaßen, und manche werden schön wie Statuen. Nur Säuglingen scheint es nicht möglich zu sein, ihre Gestalt zu ändern, weshalb Calder die Seelen der Kinder stets auf seinen Armen durch die Passage trug.
Der Schauspieler hatte einen vornehmen schwarzen Anzug an, als Calder ihn zu seiner Todestür brachte, die wegen dessen früheren Berufes aussah wie ein grüner Samtvorhang vor einer goldenen Vorbühne. Jede Seele sah die Passage mit ihren eigenen Augen, in den Farben, den Gerüchen und der Beschaffenheit, die ihrer Vorstellung entsprach. Der Schlüssel des Begleiters öffnete jede Todestür – egal ob Reispapierwand oder schmiedeeisernes Tor – mit derselben Leichtigkeit.
Wie ein aufgeregtes Kind schnappte der Schauspieler beim Anblick der prächtigen, eindrucksvollen Tür nach Luft. Einige Seelen betraten die Passage krank vor Angst, andere voll unsicherer Verwirrung, doch viele begrüßten den Abschied von ihrem Leben als Abenteuer.
»Bist du ein Engel?«, fragte der Schauspieler, wie so viele vor ihm.
»Ich bin ein Begleiter«, antwortete Calder, »ich bin deine Eskorte.«
Er verschloss die Todestür hinter ihnen und schob den Schlüssel an der Kette wieder unter seine Gewänder. Jede neue Seele kleidete den Begleiter so, wie es ihr genehm war, und für diesen jungen Mann trug Calder seidene Roben in einem hellen Weizenton.
Manchmal fand sich der Seelenhüter auch wie ein Krieger in voller Rüstung wieder, dann wieder mit weißen Flügeln auf dem Rücken, die wie große Segel im Wind flatterten. Genauso veränderte sich auch die Passage in den Himmel jeweils nach den Vorstellungen der sie durchschreitenden Seele. Mal war sie aus rotem Lehm oder bemoosten Baumstämmen, dann wieder aus glänzendem schwarzem Marmor oder bemaltem, juwelenbesetztem Holz. Auch der Boden bestand wahlweise aus indischen Teppichen, Sand, Gras, poliertem Zedernholz oder Strohmatten. Einige Bereiche waren allerdings immer gleich, etwa das Theater, das Festmahl, die Galerie, der Garten und die Zelle.
Als sie die Passage betraten, war sie in marmoriertes Papier gehüllt, und auf dem Boden lag ein dicker purpurfarbener Teppich. Zuerst erschien wie immer das Theater der betreffenden Seele. Der Schauspieler beobachtete, wie sich zu seiner Linken eine kleine Bühne auftat. Drei maskierte Figuren spielten pantomimisch eine tragische Szene nach, in der ein Liebespaar von einem Mann mit einem Schwert gestört wird.
Der Schauspieler blieb stehen und sah zu, wie der Eindringling den Mann niederstach, der daraufhin in einen Seitenflügel kroch.
Obwohl der Mann die Darbietung nicht weiter kommentierte, fragte er: »Bin ich tot?«
»Ja.«
Ohne ein Wort folgte der Schauspieler Calder weiter den
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