Seelenhüter
[home]
Teil I
Die Passage
1.
C alder war seit seinem Tod im Alter von neunzehn Jahren ein Seelenhüter, ein Begleiter, ein Mitglied der Todeseskorte.
Mittlerweile waren seitdem dreihundertdreißig Jahre vergangen, und er hatte in dieser Zeit viele Frauen an den unterschiedlichsten Todesschauplätzen, zu denen er geschickt worden war, sterben sehen.
Nicht wenige von ihnen waren ertrunken. Einmal hatte sich so viel Seegras um das Kleid einer Frau gewickelt, dass es einen Meerjungfrauenschwanz bildete, eine andere lag in einem Teich, umgeben von Lilien, die wie Grabbeigaben um ihr im Wasser schwebendes Haar schimmerten.
Viele Frauen starben verloren und gebrochen in efeuüberwucherten Wäldern oder auf dem offenen Feld, wo sie wie hingegossen im Schnee lagen, halb bedeckt wie Grabsteine.
Manche hauchten ihr Leben sicher in ihren Betten aus, andere vergessen in engen, dunklen Gassen.
Im Lauf der Jahre hatte er auch viele Frauen gesehen, die sich um die Dahinscheidenden kümmerten – eine wusch das Gesicht ihrer todkranken Schwester mit Fliederwasser, eine andere betete und weinte mit ihrem Vater am Sterbebett. Einige Frauen pflegten Soldaten, andere lagen neben ihren Ehemännern und träumten, sich dessen nicht bewusst, dass diese längst aufgehört hatten zu atmen.
In den letzten dreihundertdreißig Jahren hatte Calder Abertausende von sterblichen Frauen zu Gesicht bekommen, weshalb er beim besten Willen nicht verstand, warum der Anblick dieser einen Frau ihn so sehr erschütterte.
* * *
Auf der Erde war es Winter, man schrieb das Jahr 1904 . Diesmal hatte sich die Todestür zu einem Kinderzimmer geöffnet und gab den Blick auf den sterbenden Körper eines Babys frei, dessen geschwollenen Leib innere Blutungen dahinrafften. Der Anblick des sterbenden Säuglings brachte Calder nicht aus dem Gleichgewicht, schließlich hatte er Hunderte von ihnen über die Passage in den Himmel begleitet. Er hatte schon Babys gesehen, die des Nachts allein in ihrer Wiege starben, oder umringt von Ärzten und Priestern, in schmutzigen Hütten, in prachtvollen Palästen. Ebenso Säuglinge, die vor Kälte starben oder am Fieber und deren Mütter verzweifelt versuchten, ihnen durch ihre kleinen Münder wieder Leben einzuhauchen.
Wie alle Seelenhüter empfand auch Calder Mitgefühl mit den Leidenden, doch sobald eine menschliche Seele – selbst die eines Säuglings – die Hand nach ihrem Begleiter ausstreckte und sich aus ihrer sterblichen Hülle löste, schloss sich die Todestür und blendete die Schreie und das Weinen der Zurückgebliebenen aus. Weder Todesgrauen noch Trauer oder Wut konnte das Portal je wieder öffnen.
Der Begleiter war im Besitz des einzigen Schlüssels.
Auch wenn Calder nicht zum ersten Mal eine bildschöne Frau zu Gesicht bekam, durchfuhr ihn beim Anblick ihres rotgoldenen Haares, das ihr Antlitz wie ein Heiligenschein umrahmte, ein Blitz des Wiedererkennens. Und auch wenn er schon häufig beobachtet hatte, wie sich eine Frau hingebungsvoll um ihr Kind kümmerte, war er schlicht davon verzaubert, wie diese zarte Gestalt ihr Kind an sich drückte und ihm kleine Gebete und Beschwörungen ins Ohr flüsterte. Wie ein Geist saß sie da, schaukelte im Licht der Lampe sanft vor und zurück und sang in einer verbotenen Sprache. Die Frau berührte Calders Herz, entfaltete beinahe die schwer zugänglichen Seiten seiner Erinnerung – so vertraut wirkte sie, obwohl er wusste, dass er ihr nie zuvor begegnet war.
Der Seelenhüter versuchte sich zu erinnern, ob sie jemandem ähnelte, der ihm in all den Jahren auf Erden über den Weg gelaufen war, doch genauso wie die Trauer der an die Erde Gebundenen hinter der Todestür zurückblieb, so waren auch die Erinnerungen einer sterbenden Seele nicht mehr zugänglich. Als Calder sein irdisches Leben aushauchte und zum Begleiter wurde, drängte sein neues Leben das alte in den Hintergrund. Er konnte sich nur noch entfernt daran erinnern, ein Mensch gewesen zu sein, wie wenn man ein Gemälde zwei Zimmer weiter durch mehrere offene Türen betrachtet. Ganz gleich, ob das Bild des vergangenen Lebens eines Begleiters himmlisch oder höllisch war, es erschien immer ruhig und bewegungslos.
Calders Gemälde seines eigenen irdischen Lebens war reichhaltig und überschattet, mit kräftigen Farben gemalt, voller Details und dennoch so emotionslos wie jede Leinwand. Auf einer Theaterbühne, in den warmen Schein einer Papierlaterne getaucht und von feinen, stehenden wie liegenden
Weitere Kostenlose Bücher