Seelenhüter
wiedersah.
3.
D ie Zeit vergeht nicht überall gleich schnell. Auf der Erde ist sie so beständig, wie sich die Planeten in ihrem Tanz um die Sonne anziehen, auf der Passage in den Himmel dagegen eilt die Zeit, kriecht oder schläft – immer abhängig davon, wie viele Erdenmenschen in der jeweiligen Stunde gerade sterben –, doch niemals geht sie zurück. Ein Begleiter weiß immer, in welchem Erdenjahr er gerade ist, sobald er eine Todestür öffnet, auch wenn er am Morgen im Jahr 1703 und am Abend im Jahr 1710 oder für tausend Tage im Jahr 1865 ist. Daher ist es nicht überraschend, wenn für einen Seelenhüter in einer einzigen Nacht mehrere Menschenjahre vergehen.
Auf der Erde schrieb man das Jahr 1912 , und es war für Calder erst die zweite Tür an diesem Morgen.
Die erste hatte sich neben einem sinkenden Schiff geöffnet, wo er mit einigen Kameraden gewartet hatte, bis es zerbrochen und auf den Grund der See gesunken war. Wie immer benötigte Calder die Gesellschaft seiner Kameraden, fühlte sich aber zugleich schuldig deswegen, da dann viele Menschen leiden mussten. Der Mann, zu dem Calder gerufen worden war, starb als einer der Ersten, doch als das Schiff in den Fluten versank, öffneten sich beinahe eintausend Todestüren gleichzeitig. Sie flammten hell auf wie die Sonne und beleuchteten mit ihrem Glühen das Wasser über mehrere Meilen hinweg.
Als Calder durch die zweite Tür trat, war der Säugling vom Tag zuvor acht Jahre alt. Der Junge lag in einem abgedunkelten Raum im Bett, dünn, die Haut blass und feucht, am ganzen Körper zitternd, die Augen zu Schlitzen verengt, den Blick an die Decke gerichtet. Dick und schwer umhüllte ihn der Schmerz wie ein Kettenhemd. Calder erkannte ihn nicht.
Da öffnete sich die Tür auf der anderen Seite des Zimmers, und herein kamen vier Mädchen, die zögerlich innehielten, als sie den sterbenden Jungen erblickten, und sich in einer Reihe am Fußende des Bettes aufstellten – unzweifelhaft seine Schwestern. Die jungen, hübschen Dinger sahen sich sehr ähnlich, bis auf die Letzte in der Reihe. Sie war kleiner als die anderen und mit knapp zwölf ganz offensichtlich die Jüngste. Auch wenn man sie sicher ebenfalls als hübsch bezeichnen konnte, war sie weder so schlank noch so selbstsicher wie ihre Schwestern. Ein vertrautes schelmisches Funkeln lag in ihren Augen.
Dann glitt etwas aus den Schatten, und das Bild einer Frau wurde im schwachen Licht der Lampe sichtbar wie eine Erscheinung. Erschrocken und ungläubig wandte Calder sich ab, nur um gleich wieder hinzusehen. Es war kein Traum. Die Frau war Glory, strahlend und unverändert, auch wenn der Junge so viel älter war.
Das Wunder machte den Seelenhüter sprachlos. Schwach und benommen streckte er die Hand aus, doch er griff ins Leere und fiel auf die Knie. Niemals zuvor war er zweimal zu demselben Menschen geschickt worden.
Wenn ein Begleiter an den Todesschauplatz einer Seele berufen wird, dann als Gefährte dieser Seele für die bevorstehende Reise. Ein Mensch, der dem Tode mehrmals knapp entgangen ist, etwa weil er mit zehn beinahe ertrunken, mit dreißig beinahe an einer Lungenentzündung gestorben wäre, und der im hohen Alter von achtzig Jahren nun endlich die Passage betritt, hatte in jeder dieser Situationen einen anderen Seelenhüter an der Seite. Die Verteilung der Todestüren beruht ganz darauf, wer an einem bestimmten Tag stirbt und welcher Begleiter sich noch nicht an einem Schauplatz aufgehalten hat.
Dieses Zusammentreffen hingegen schien wohldurchdacht. Es war unwahrscheinlich und schockierend, aber
wahr:
Er und Glory waren füreinander bestimmt.
Die junge Frau setzte sich auf einen Stuhl neben dem Kopf des Jungen, genau gegenüber von der Stelle, wo Calder kniete. Die meisten Begleiter erwählten sterbende Menschen als ihre Lehrlinge, wie es auch Liam mit ihm getan hatte. Doch Glory war dazu auserkoren, Calders besondere Begleiterin zu werden, davon war er überzeugt. Das war seine zweite Chance. Sie würde ihn dann sehen und seine Stimme hören können, er dagegen würde ihr den Schlüssel anbieten und sie – ihren Körper und ihre Seele – mit auf die Passage nehmen. Für die Familie des Jungen würde sie einfach verschwinden. Dann könnte Calder sie ausbilden, und eines Tages würde sie im Jenseits für immer an seiner Seite sitzen.
Calder war sich sicher, dass Glory für diese Aufgabe bestimmt war.
Als sie den Blick durch den Raum schweifen ließ, kamen ihre Augen auf ihm
Weitere Kostenlose Bücher