Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
Gedächtnis für Gesichter nicht besonders ausgeprägt. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Eine Begrüßungsfloskel, einen Anmachspruch, irgendetwas. Doch dazu kam er nicht mehr.
In diesem Augenblick traf ihn etwas im Rücken. Er konnte nicht sagen, was es war, doch es schien sich in seine Haut zu krallen. Ein scharfer Schmerz ging davon aus, verteilte sich in alle Richtungen und raste durch seinen ganzen Körper. Verzweifelt versuchte er danach zu greifen, es aus seiner Haut herauszureißen, aber seine Arme wollten ihm einfach nicht gehorchen. Auch den Rest seines Körpers schien er plötzlich nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Er spürte, wie seine Muskeln unkontrolliert zu zucken begannen. Dabei hatte er das Gefühl, innerlich zu verbrennen.
Er kippte nach vorn, sah den schmutzigen Betonboden, der in rasender Geschwindigkeit auf ihn zuzukommen schien. Dann wurde es dunkel um ihn.
Als sein Kopf hart auf den Boden prallte, war er schon nicht mehr bei Bewusstsein.
Freitag, 01. März
Scheinbar emotionslos starrte Rüdiger Tenstaage auf die Fingerknöchel seiner rechten Hand. Winzige Blutstropfen sickerten durch die abgeschürften Stellen und färbten seine Haut rosig. Er hatte keinerlei Zweifel, dass die Knöchel innerhalb der nächsten Stunden blau anlaufen würden. Sie begannen schon jetzt anzuschwellen.
Doch der äußere Schein trog. Tenstaage war alles andere als ruhig, in seinem Inneren brodelte es. Wut mischte sich mit Hoffnungslosigkeit.
»Ihr verdammten Schweine!«, brüllte er wieder und schlug noch einmal mit der Faust gegen die schwere Metallklappe, die in der Wand eingelassen war. Seltsamerweise tat ihm der Schmerz gut, ließ ihn fühlen, dass er noch am Leben war.
Der Klappe dagegen machten seine Schläge nicht das Geringste aus. Keinerlei Beulen, nicht einmal leichte Dellen zeigten sich in dem dicken Metall.
Das versetzte ihn nur noch mehr in Wut. Mit aller Kraft begann er auf die Klappe einzutreten. »Lasst mich hier raus, verdammt!«, brüllte er immer wieder. »Ich will hier raus!« Als er merkte, dass seine Tritte leichte Dellen in der Klappe hinterließen, spornte ihn das nur noch mehr an. Immer wieder trat er dagegen, bis seine Beine und seine Füße heftig zu schmerzen begannen.
Erschöpft hielt er inne, sein Atem ging stoßweise. Aber er war noch nicht bereit, sich unterkriegen zu lassen.
Er trat ein paar Schritte zurück und starrte auf die verspiegelte Scheibe aus Sicherheitsglas oberhalb der Metalltür, nur knapp unterhalb der niedrigen Decke. Er wusste nicht, ob sich dahinter eine Videokamera befand oder ob seine Entführer direkt dahinter saßen und ihn beobachteten, aber er war sich absolut sicher, dass sie ihn die ganze Zeit sehen konnten.
Sie sehen mich, und sie genießen den Anblick, dachte er verbittert.
»Lasst mich raus, ihr verdammten Hurensöhne!«, brüllte er das Glas an.
Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was sie mit seiner Entführung bezweckten. Es konnte eigentlich nur um den Vertrag gehen, den er mit Stanbach ausgehandelt hatte. In dessen Kanzlei war er entführt worden, und es war das größte Projekt, was er für seine Firma jemals an Land gezogen hatte. Nur verstand er nicht, warum die Entführer ihm nicht endlich sagten, was sie von ihm wollten.
Nachdem er in seinem Verlies aufgewacht war, mit dröhnenden Kopfschmerzen und einem üblen Schwindelgefühl, hatte er erwartet, dass ihm jemand innerhalb von kurzer Zeit irgendein Dokument vorlegen würde, das er unterzeichnen sollte. Er war davon überzeugt gewesen, dass er nur eingeschüchtert werden sollte.
Inzwischen aber war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher.
So langsam, dachte er, könnten die mir endlich sagen, was sie von mir wollen.
Mittwoch, 6. März
Das Schrillen ihres Weckers riss sie aus dem Schlaf.
Linda Vossen verzog gequält das Gesicht, knurrte etwas Unverständliches, drehte sich auf die andere Seite und zog sich das Kissen über den Kopf. Sie wollte, nein, sie konnte noch nicht aufstehen.
Aber der Wecker war unerbittlich. Sein ohrenbetäubender Lärm erfüllte das kleine Schlafzimmer und vertrieb jeden Gedanken daran, einfach weiterzuschlafen.
Also richtete sich Linda mit einem unwilligen Stöhnen auf, schlug die Bettdecke weg und lief zu dem kleinen Tischchen, auf dem der Unruhestifter stand. Linda selbst hatte ihn dort platziert. Wenn sie nicht aufstehen musste, um den Wecker auszustellen, nutzte er ihr gar nichts. Dann stellte sie ihn einfach aus und schlief
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