Seelenlos
1
Beim Aufwachen hörte ich, wie ein warmer Windstoß das lose Fliegengitter am offenen Fenster klappern ließ, und ich dachte: Stormy . Doch sie war es nicht.
Die Wüstenluft roch schwach nach Rosen, die nirgendwo blühten, und nach Staub, der in der Mojave zwölf Monate pro Jahr gedeiht. Niederschlag fällt in Pico Mundo, meiner Heimatstadt, nur während des kurzen Winters. Dies war zwar eine Februarnacht, doch die milde Luft war nicht vom angenehmen Duft des Regens erfüllt.
Ich hoffte, ein abklingendes Grollen zu hören, aber wenn mich tatsächlich ein lauter Schlag aufgeweckt hatte, dann musste er in meinem Traum vorgekommen sein.
Mit angehaltenem Atem lag ich da, lauschte der Stille und spürte, wie die Stille mir lauschte.
Der Wecker auf dem Nachttisch malte glühende Ziffern in die Dunkelheit – zwei Uhr einundvierzig.
Eine kleine Weile überlegte ich, ob ich im Bett bleiben sollte, aber inzwischen schlafe ich nicht mehr so gut wie damals, als ich jung war. Ich bin einundzwanzig und doch viel älter als noch vor einem Jahr.
Bestimmt hatte ich Gesellschaft. In der Erwartung, dass ein doppelter Elvis über mich wachte, einer mit mutwilligem Lächeln und der andere mit trauriger Besorgtheit, setzte ich mich auf und knipste die Lampe an.
Nur ein einzelner Elvis stand in der Ecke, als lebensgroße Pappfigur, die einmal im Kino Werbung für Blue Hawaii gemacht hatte. Mit seinem Hawaiihemd und seiner Blumenkette sah er selbstbewusst und glücklich aus.
Damals, 1961, hatte er gute Gründe, glücklich zu sein. Blue Hawaii lief fantastisch, und das dazugehörige Album schoss an die Spitze der Hitparade. In diesem Jahr erhielt er sechs goldene Schallplatten, unter anderem für »Can’t Help Falling in Love«, und im Einklang mit genanntem Titel verliebte er sich in Priscilla Beaulieu.
Weniger glücklich war, dass er auf Drängen seines Managers Tom Parker die Titelrolle in West Side Story zugunsten mittelmäßiger Filmkost wie Ein Sommer in Florida ausgeschlagen hatte. Gladys Presley, seine geliebte Mutter, war zwar schon drei Jahre tot, doch er litt noch immer sehr unter dem Verlust. Obwohl er erst sechsundzwanzig war, bekam er bereits Gewichtsprobleme.
Der Papp-Elvis lächelt auf ewig; er ist immer jung, unfähig, sich zu irren oder etwas zu bedauern, unberührt von Gram, fern jeder Verzweiflung.
Ich beneide ihn. Es gibt kein Pappmodell von mir, wie ich einmal war und wie ich nie wieder sein kann.
Im Lampenlicht war jemand anders sichtbar, der ebenso geduldig wie verzweifelt wirkte. Offenbar hatte er mich im Schlaf beobachtet und gewartet, bis ich aufwachte.
»Hallo, Dr. Jessup«, sagte ich.
Dr. Wilbur Jessup war nicht in der Lage, mir zu antworten. Kummer überzog sein Gesicht. Seine Augen waren trostlose Tümpel, in deren einsamer Tiefe jede Hoffnung ertrunken war.
»Tut mir leid, Sie hier zu sehen«, sagte ich.
Er ballte die Hände zur Faust, nicht mit der Absicht, auf irgendetwas einzuschlagen, sondern als Ausdruck der Frustration. Die Fäuste presste er an seine Brust.
Bisher hatte Dr. Jessup meine Wohnung noch nie aufgesucht, und im Herzen wusste ich, dass er nicht mehr nach Pico Mundo gehörte. Dennoch hätte ich das lieber geleugnet, weshalb ich ihn erneut ansprach, während ich aus dem Bett kroch.
»Habe ich die Tür nicht abgeschlossen?«
Er schüttelte den Kopf. Tränen standen in seinen Augen, doch ich hörte ihn nicht heulen, ja nicht einmal wimmern.
Ich holte ein Paar Jeans aus dem Kleiderschrank und schlüpfte hinein. »In letzter Zeit bin ich vergesslich«, sagte ich.
Er öffnete die Fäuste und starrte seine Handflächen an. Die Hände zitterten. Er vergrub das Gesicht darin.
»Es gibt so viel, was ich vergessen möchte«, fuhr ich fort, während ich Socken und Schuhe anzog, »aber leider entfällt mir nur irgendwelcher Kleinkram – zum Beispiel, wo ich den Schlüsselbund hingelegt habe, ob die Tür abgeschlossen ist, dass ich Milch besorgen muss …«
Dr. Jessup, von Beruf Radiologe am örtlichen Krankenhaus, war ein sanfter, stiller Mensch. So still war er allerdings noch nie gewesen.
Weil ich im Bett kein T-Shirt getragen hatte, zog ich ein weißes aus einer Schublade.
Ich besitze ein paar schwarze T-Shirts, aber vor allem weiße. Abgesehen von einer Auswahl Bluejeans habe ich zwei Paar leichte weiße Baumwollhosen.
In diese Wohnung ist nur ein kleiner Kleiderschrank eingebaut. Er steht zur Hälfte leer. Das gilt auch für die unteren Schubladen meiner Kommode.
Ich
Weitere Kostenlose Bücher