Seelenlos
gut gewählten Zaubersprüchen selbst einem lebenden Menschen den Ti-bon-ange rauben.
Den Ti-bon-ange eines anderen Bokor oder eines Mundunugu zu rauben, gilt bei den Anhängern dieser merkwürdigen Kunst als absolute Höchstleistung.
Cheval bedeutet nur in alltäglichem Französisch einfach »Pferd«. In der Sprache des Voodoo ist ein Cheval eine Leiche, die frisch aus dem Leichenschauhaus oder auf anderem Wege besorgt wird, um darin einen Ti-bon-ange unterzubringen.
Die ehemalige, nun wieder lebendige Leiche wird von diesem Ange beseelt, der sich vielleicht nach dem Himmel – oder gar der Hölle – sehnt, aber unter der eisernen Kontrolle eines Bokor steht.
Aus der Bedeutung dieser exotischen Begriffe ziehe ich keinerlei Schlüsse. Ich habe sie hier nur zum Nutzen eurer Allgemeinbildung erläutert.
Wie schon gesagt, ich bin ein Mann der Vernunft, der dennoch über eine paranormale Wahrnehmung verfügt. Tag für Tag balanciere ich auf einem Hochseil. Ich überlebe, indem ich den Punkt finde, an dem sich Vernunft und Unvernunft, das Rationale und das Irrationale berühren.
Gibt man sich gedankenlos der Irrationalität hin, so führt das praktisch in den Wahnsinn. Verlässt man sich jedoch ausschließlich auf Rationalität, wogegen man die Existenz jedes Geheimnisses im Leben und dessen Bedeutung leugnet, so ist das ebenso sehr eine Form des Wahnsinns wie ein Kotau vor der Unvernunft.
Ein Vorzug des Lebens als Grillkoch oder als Reifenmonteur besteht darin, dass man während eines anstrengenden Arbeitstages keine Zeit hat, über solche Dinge nachzudenken.
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Sean Llewellyn, Stormys Onkel, ist Priester und Pfarrer der Kirche St. Bartholomew in Pico Mundo.
Als Stormy siebeneinhalb Jahre alt war, kamen ihre Eltern ums Leben, und sie wurde von einem Paar aus Beverly Hills adoptiert. Ihr Adoptivvater verging sich an ihr.
Obwohl sie einsam, verwirrt und voller Scham war, fand sie schließlich den Mut, sich einer Sozialarbeiterin anzuvertrauen.
Anschließend lebte sie im Waisenhaus von St. Bartholomew, bis sie mit der Highschool fertig war. Sie hat sich immer ihre Würde und ihren Mut bewahrt, statt sich als Opfer zu fühlen und der Verzweiflung hinzugeben.
Ehrwürden Llewellyn ist ein sanfter Mensch mit einem schroffen Äußeren, der starke Überzeugungen besitzt. Er sieht aus wie Spencer Tracy in der Rolle von Thomas Edison, trägt jedoch einen Bürstenhaarschnitt zur Schau. Ohne seinen Priesterkragen könnte man ihn glatt mit dem Offizier einer Elitetruppe verwechseln.
Zwei Monate nach den Geschehnissen im Panamint begleitete Chief Porter mich zu einem Gespräch mit Pfarrer Llewellyn. Wir kamen im Arbeitszimmer des Pfarrhauses zusammen.
Nachdem wir vereinbart hatten, dass eine priesterliche Schweigepflicht gelten sollte wie bei einer Beichte, erzählten
wir von meiner Gabe. Der Chief bestätigte, dass er mit meiner Hilfe mehrere Verbrechen aufgeklärt hatte, und bürgte für meine Zurechnungsfähigkeit.
Vor allem hatte ich ein bestimmtes Anliegen. Ich wollte mich nach einem Kloster erkundigen, wo man einem jungen Mann wie mir Kost und Logis gewähren würde. Dafür würde dieser junge Mann gern hart arbeiten, wenngleich er nicht glaubte, jemals Mönch werden zu wollen.
»Du willst als Laie in einer religiösen Gemeinschaft leben«, sagte Pfarrer Llewellyn. So wie er das ausdrückte, hörte es sich an, als wäre das ein ungewöhnliches, aber durchaus erfüllbares Anliegen.
»Ja, Sir. Genau das will ich«, sagte ich.
Mit dem brummigen Charme eines besorgten Feldwebels, der einen aus dem Tritt geratenen Rekruten berät, sagte der Priester: »Odd, du hast in den letzten zwölf Monaten allerhand schwere Schläge hingenommen. Damit umzugehen, dass du Bronwen verloren hast – ich habe sie ja auch verloren –, war unendlich schwer für dich, weil sie … weil sie eine so gute Seele war.«
»Ja, Sir, das war sie. Das ist sie immer noch.«
»Trauer ist eine gesunde Emotion, und es ist richtig, sich ihr hinzugeben. Indem wir einen Verlust akzeptieren, bringen wir Klarheit in unser Denken und den Sinn unseres Lebens.«
»Ich würde dadurch vor der Trauer nicht weglaufen, Sir«, versicherte ich ihm.
»Aber vielleicht würdest du dazu neigen, zu sehr darin zu versinken?«
»Nein, das auch nicht.«
»Genau deshalb mache ich mir Sorgen«, mischte sich Chief Porter ein. »Und deshalb bin ich auch nicht dafür, dass er ins Kloster geht.«
»Es ist ja nicht für den Rest meines Lebens«, sagte ich.
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