Seelensturm
Stimmung lesen konnte. Amy schaffte es, ihre innere Verfassung für sich zu behalten. Völlig verwirrt starrte ich sie an und versuchte mit aller Kraft, ihren Zustand zu lesen. Doch sie entzog mir jegliche Zustimmung. Mein eigenes verärgertes Rot durchdrang meinen Körper. Ich wollte es genauso verhindern, doch mein immer dunkler werdendes Grau zeigte ihr, wie frustriert ich darüber war. Von da an wusste ich, dass Amy im Gegensatz zu mir, in der Lage war, ihre Farben abzustellen. Ich war damals tief beleidigt. Bislang hatten wir alles geteilt. Es gab nichts, was sie vor mir geheim hielt. Es war das erste Mal, dass sie es geschafft hatte, etwas für sich zu haben. Etwas, was sie nicht mit mir teilen musste. Tagelang hatte ich beleidigt kein Wort mehr mit ihr gesprochen, während sie mir triumphierend ins Gesicht lachte.
Den ganzen Tag über hatte ich mich auf die Abendstunden gefreut, die endlich etwas Abkühlung versprachen. Ich blinzelte, als die letzten Sonnenstrahlen des Tages mein Gesicht streiften.
Für einen Moment trübte sich mein Blick. Eine Sekunde, in der ich unachtsam war, hätte im Ernstfall meinen Tod bedeuten können. Ich durfte nicht zulassen, dass die Erschöpfung mich vollkommen einnahm. Schnell verdrängte ich das Gefühl und schrie mich innerlich wach, ging wieder in Kampfstellung und war bereit, den nächsten Schlag abzuwehren.
Mein schwarzes Bustier war schweißgetränkt und meine Haut glänzte im Licht der Sonne. Mein langes, dunkles Haar hatte ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und doch hatten sich einige Strähnen daraus gelöst. Sie klebten mir an Stirn und Nacken.
Unser Atem ging schnell und unsere Wangen glühten vor Anstrengung. Meine Arme fühlten sich schwer an, als ich den Stab anhob und versuchte, meine Gegnerin an den Beinen zu treffen. So schnell mein Angriff war, konnte sie ihn doch abwehren. Ein weiteres Mal hob ich den Stock. Mit einer Drehbewegung traf ich sie so, dass sie strauchelte und mit dem folgenden Schlag ließ sie sich endgültig fallen. Sofort stand ich über ihr und zwang sie aufzugeben. Ihr Blick war wütend und ein Rot durchdrang ihren Körper gemischt mit einem Hauch Grau. Ich hatte gewonnen - wieder einmal. Das Rot wurde schwächer und das Grau überlagerte es schließlich. In ihren Augen sah ich Wut und Ärger über den verlorenen Kampf. Meinen Eichenholzstab legte ich beiseite, ohne sie aus den Augen zu lassen. Ich ließ von ihr ab und bot zur Hilfe meine Hand an. Verärgert schlug sie sie aus, stand auf und lief quer durch die Halle.
»Jetzt komm schon, Amy! Es war ein fairer Kampf«, rief ich ihr nach, sie ließ mich jedoch einfach stehen. Jede Spannung war aus meinem Körper verschwunden und ich warf meinen Kopf erschöpft in den Nacken. Fluchend sah ich zur Decke und ärgerte mich. »Mach dir nichts daraus, Jade! Sie muss noch viel lernen. Du warst gut heute!«, sagte Mr. Chang gelassen und kam zu mir gelaufen, während Amy die Tür mit einem lauten Knall zuschlug, der wie ein Donner in der Halle polterte.
»Achte mehr auf deine Atmung und du solltest noch mehr Kondition aufbauen. Daran müssen wir arbeiten.« Mr. Chang hob unsere Stäbe auf. Er war ein paar Zentimeter kleiner als ich, schlank und zierlich. Trotzdem sollte man ihn nie unterschätzen. Das war das Erste, was wir von ihm lernen durften. Er war beweglich wie eine Katze und genauso präzise. Ich hatte viel erwartet von einem älteren Mann, aber nicht, dass er so sportlich und unglaublich geschickt in einem Kampf sein konnte.
Amy war genauso von dem Japaner beeindruckt gewesen wie ich. Sein ständiges Grinsen hatte sie anfangs auf die Palme gebracht. Und einmal hatte Amy ihn herausgefordert. Mit einer beeindruckenden, kurzen Bewegung hatte er sie damals bewegungsunfähig zu Boden gebracht. Es ging so schnell, dass ich es nicht genau sehen konnte. Seitdem hatten wir seine spezielle Art und auch sein breites Grinsen gelernt zu akzeptieren.
»Inneres Gleichgewicht, Jade! Immer langsam ein- und ausatmen«, wies er mich noch mal an und wiederholte beim Wegräumen der Stäbe seinen Satz immer wieder. Danach verbeugte er sich vor mir, während ich es ihm gleich tat. Damit schloss er das Training für heute. Ich nahm mein Handtuch, tupfte mir den Schweiß von der Stirn und trank den letzten Schluck aus der Wasserflasche.
Amy stand bestimmt schon unter der Dusche. Wenn ich sie noch erwischen wollte, sollte ich mich beeilen. Ich konnte mir schon denken, warum sie sauer war. Ich hatte
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