Seelensunde
Lachen.
Es mussten Übernatürliche anwesend sein. Aber wo steckten sie? Alastor hatte es schon draußen gespürt, und das Gefühl hatte sich deutlich verstärkt, seit sie den Klub betreten hatten. Aufmerksam sah er sich um. Im Lokal waren wenige Gäste. Außer der Gruppe, die von dem widerlichen Dicken angeführt die Bühne belagerte, hielten sich zwei Jünglinge im Raum auf. Sie saßen an einem der runden Tische und gaben sich große Mühe, nicht aufzufallen. Alastor hätte gewettet, dass sie noch minderjährig waren. In einer dämmrigen Ecke saß ein alter, einsamerZecher, vor dem bereits drei leere Gläser standen, als er das vierte in der Hand hielt und trank. Die Bedienung hinter der Bar war nicht zu entdecken. Der Barmixer saß auf einem hohen Hocker und blätterte gelangweilt in einem Motorrad-Magazin. Keine dieser Personen hatte etwas mit übernatürlichen Kräften zu tun. Dennoch nahm Alastor unverkennbare Schwingungen wahr.
Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte er zwei schmale Korridore, die von der Lounge abgingen. „Ruheräume“ stand über dem einen Durchgang, „Nur für Personal“ über dem anderen.
„Sind wir eigentlich aus einem bestimmten Grund hier?“, fragte er seinen Bruder. Er wäre am liebsten sofort wieder gegangen. Wenn Malthus sich unauffällig umsehen will, hätte er lieber allein kommen sollen, dachte Alastor, während er sein verzerrtes Spiegelbild hinter dem Flaschenregal der Bar betrachtete. Er war hier so unauffällig wie ein Ketchupfleck auf einem weißen Hemd.
„Ja“, antwortete Malthus.
„Aber nicht wegen der da, oder?“ Alastor machte eine Kopfbewegung zur Bühne.
Die Stripperin war eine Schönheit von einer Klasse, die man in diesem Schuppen nicht erwartet hätte. Alastors anfänglicher Verdacht verdichtete sich. Diese Frau verfügte ohne Zweifel über noch andere Qualitäten als über körperliche Reize.
Lasziv lächelnd warf die Tänzerin ihr langes blondes Haar zurück und hockte sich mit einer eleganten Bewegung auf die Fersen, wobei sie die Knie gespreizt hielt. Ihr Bewunderer streckte sich noch weiter und wedelte dabei mit einem Geldschein. Die anderen am Tisch johlten. Einer seiner Kumpane hatte sich jetzt ebenfalls erhoben. Er hielt eine Dollarnote zwischen den Zähnen und schüttelte den Kopf dabei wie ein Hund, der einen Knochen im Maul hat.
Während Alastor das Geschehen auf der Bühne weiter beobachtete, nahm er einen englischen Karamellbonbon aus der Hosentasche,wickelte ihn aus und steckte ihn sich in den Mund. Die Stripperin robbte auf allen vieren an den fetten Gast heran, holte sich den Geldschein und gewährte dem Spender dafür die Gunst, ihn mit ihrer blonden Mähne zu streifen. Für den unvoreingenommenen Betrachter war es eine ganz alltägliche Szene: Ein hässlicher Mann zahlte dafür, einen kurzen Augenblick lang eine attraktive Frau berühren zu dürfen.
Alastor sah etwas anderes darin. „Sieht aus, als wäre dieser Laden nicht ausschließlich auf Striptease spezialisiert.“
Malthus nickte. „Hast du noch ein Toffee? Mir sind die Süßigkeiten ausgegangen.“
Wieder griff Alastor in die Hosentasche und bot Malthus eins an. Der eigenartige Stoffwechsel ihrer halb sterblichen, halb unsterblichen Natur brachte es mit sich, dass ihr Körper täglich nach einer beträchtlichen Dosis Zucker verlangte. Wenn die Krayl-Brüder den Bedarf nicht unterwegs mit Süßigkeiten deckten, tranken sie Honig oder nahmen esslöffelweise einfachen Haushaltszucker zu sich. Nicht sehr angenehm, aber unvermeidlich.
„Meinst du … sie ist ein Sukkubus?“ Nachdenklich betrachtete Alastor, was auf der Bühne vor sich ging.
„Du sagst es. Würde dich das nicht reizen?“
„Nein, danke. Kein Bedarf.“ Alastor konnte sich etwas Angenehmeres vorstellen, als sich mit einem Dämon einzulassen, der versuchte, einem die Lebenskräfte auszusaugen.
Malthus grinste. Gegen seinen dunklen Dreitagebart schienen seine Zähne noch weißer zu strahlen. „Man muss alles mal ausprobiert haben.“
Typische Malthus-Bemerkung. Er war ein Chamäleon. Seit Jahrhunderten probierte er die technischen Errungenschaften, die Moden, Musik oder Sprachen aus, die die Menschheit entwickelte.
Alastor war da wählerischer. Er war das Produkt der Erziehung seiner sterblichen Zieheltern und in der Welt der schönen Künste und des Fünfuhrtees aufgewachsen. Er schätzte einegepflegte Konversation ebenso sehr wie maßgeschneiderte Anzüge und hielt auch jetzt noch an diesen
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