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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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sich immer wieder in überdachte Hauseingänge und hinter Säulen geduckt, um die hartnäckige Verfolgung durch die Polizisten des Piloten abzuschütteln. Nachdem sie eine Weile kreuz und quer über die Straßen gelaufen war, gelangte sie in ein Viertel mit einfachen, aber soliden Geschäften, deren Schilder in der dunklen Schlucht zwischen den Gebäuden hin und her schwangen und kaum zu entziffern waren. In den oberen Stockwerken brannten ein paar Lichter, doch davon abgesehen wirkte die Stadt unheimlich leer. Gegenden mit Schwerkraft waren niemals unbewohnt – Gewicht war auf dieser Welt ein allzu seltenes Gut. Die Stille hier war geradezu unnatürlich.
    Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie tatsächlich am Ziel war, blieb unter einem der Schilder lange stehen und schaute eine Allee hinauf und hinab, die sie immer
nur bei Tageslicht und voller Menschen gesehen hatte. Endlich zog sie fluchend an dem Glockenzug neben der verschlossenen Tür. Das Gebimmel erschien ihr sehr laut, und im Geiste sah sie Ladenbesitzer straßauf und straßab wie Pawlow’sche Hunde aus dem Schlaf schrecken. Die eigene Ängstlichkeit entlockte ihr ein kurzes Lächeln. Sie schlang die Arme um sich und wartete.
    Dumpfe Schritte, ein aufflammendes Licht im Fenster – dann öffnete sich eine kleine Sprechklappe in der Mitte der Tür. »Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« Eine Männerstimme, greisenhaft dünn.
    Â»Ich suche Martin Shambles«, erklärte Antaea.
    Der Mann lachte. »Als ob das eine Rechtfertigung wäre, mich aufzuwecken! Es reicht nicht, nach jemandem zu ›suchen‹, schon gar nicht nach Beginn der Ausgangssperre. Was könnte denn für denjenigen drin sein, nach dem Sie suchen?«
    Â»Martin, ich bin es, Antaea Argyre.«
    Er antwortete nicht, und sie fragte sich, ob er sie am Ende vergessen hatte. »Vom Heimatschutz?«
    Die kleine Klappe wurde zugeschlagen, und die Tür öffnete sich knarrend ein Stück weit. »Ich weiß, wer du bist, Mädchen. Nun mach schon – jede Minute kann eine Streife kommen.«
    Als der ältere Mann im weinroten Morgenrock hinter ihr die Tür schloss und verriegelte, seufzte Antaea. Seine weiße Mähne und die dicke Brille versetzten sie in die Vergangenheit zurück, und für einen Moment war es, als hätte es das vergangene Jahr nie gegeben. Dann drehte er sich um, und sie sah neue Sorgenfalten in seinem Gesicht. Sie schlug die Augen nieder. »Ich war
nicht sicher, ob ich an der richtigen Adresse war«, sagte sie.
    Â»Ich weiß das immer noch nicht«, gab Shambles zurück. Dann hob er seine Kerze und sah ihr ins Gesicht. »Damen und Herren! Was ist denn los?«
    Â»Das ist eine ziemlich lange Geschichte.«
    Â»Pah! Das ist heutzutage immer so. Nun komm schon.« Er ging voran durch den Laden. Der Kerzenschein ließ die Kanten der Rechenschieber, die zu Hunderten von Wandhalterungen hingen oder in Glasvitrinen auf kleinen Ständern ausgestellt waren, weicher erscheinen. Es gab hier Rechenschieber für Trigonometrie und für die Berechnung von Raketenflugbahnen, aber auch welche, mit denen sich ermitteln ließ, um wie viel schmaler als das Fundament die oberen Stockwerke eines Hauses zu sein hatten. Die billigeren Instrumente waren aus Holz, die besseren aus Elfenbein oder Stahl.
    Shambles bemerkte, wie sie die Waren bestaunte, und schnaubte. »Seit einiger Zeit gibt es einen regelrechten Ansturm auf Zielfernrohre«, sagte er. »Jedes einzelne, das ich im vergangenen Jahr gebaut habe, ist jetzt auf das kleine Boot gerichtet, das vor der Admiralität parkt. Köstliche Ironie.«
    Â»Das kann man wohl sagen«, pflichtete sie ihm bei. Er führte sie in einen Gang hinter der Ladentheke. »Immerhin gehörst du der Untergrundbewegung von Aerie an.«
    Â»Ist das der Grund deines Besuches?«, fragte er. »Ich glaube mich zu erinnern, dass sich der Heimatschutz den Teufel um Lokalpolitik schert. Und bei dir war das bisher nicht anders. Du hast erhabenere und globalere
Interessen, nicht wahr?« Er lachte in sich hinein. »Wenn ich mich nicht irre, wolltest du doch den Heimatschutz von innen heraus reformieren.«
    Â»Ich komme zu dir, weil ich zum Heimatschutz nicht gehen kann«, gestand sie. »Die Ortsgruppe könnte … korrumpiert worden sein.«
    Shambles stolperte über seinen Morgenrock. Als er sich wieder gefangen

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