Segel der Zeit
spürte er einen Ruck an seinem Seil. Das machte ihn rasend. Er hatte jedes Mal den Eindruck, sie wolle ihn auf sich aufmerksam machen, dabei sprach sie kein Wort, und auch er hatte ihr nichts zu sagen. Tief in Gedanken sah er die Lichter vorbeiziehen,
die seine Erinnerungen konservierten, unberührbar und unerreichbar.
Wenigstens waren Darius und Richard in Sicherheit. Vielleicht lief Darius gerade jetzt durch die StraÃen seiner Kindheit, zum ersten Mal in Freiheit, seit er bewusst denken konnte. Der Gedanke gab Chaison erstaunlich viel Auftrieb. Kriege, ja ganze Länder mochten verloren werden, aber wenn ein Befehlshaber auch nur einem einzigen Menschen das Leben gerettet hat, ist er für diesen Menschen ein Held.
Er musste lächeln.
»He«, rief er in die Dunkelheit hinein. Antaea antwortete erst nach einer Weile mit einem Brummen, und Chaison begriff, dass sie halb eingeschlafen war. Er hätte sich ohrfeigen können; wenn er das gewusst hätte, hätte er â vielleicht â an seinem Seil zu ihr hinaufklettern und sie überwältigen können.
»Was gibtâs?«, fragte sie, ohne den Rhythmus ihrer langsamen Schwingenschläge zu unterbrechen.
»Was hast du vor, wenn du sie befreit hast?«
Es blieb lange still. »Das darfst du mich nicht fragen.«
»Ach, willst du mir jetzt einen Knebel verpassen?«
»Chaison, ich â¦Â«
»Du wirst tun, was du tun musst, klar doch. Aber weiÃt du was, Antaea, wenn du auch nur einen Funken Ehre im Leib hast, dann gehört dazu auch, dass du mich fair behandelst. Und dabei ist das Mindeste, dass du nicht deine Ohren vor mir verschlieÃt.«
Ein müder, gequälter Seufzer schwebte durch die Luft. »Ist das meine Strafe?«
»Nein, nur ein Gespräch zwischen zwei Gegnern.« Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Wir stehen auf
verschiedenen Seiten. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es zwei Arten von Soldaten gibt, Antaea. Die einen können nur kämpfen, wenn sie den Feind im Geist dämonisieren oder ihn klein machen. Sie müssen hassen, um kämpfen zu können. Ein wahrer Soldat dagegen kann kämpfen, ohne zu hassen.
Ich möchte nur wissen, ob du immer schon diesen Hass auf mich empfunden hast, oder ob du dich dazu zwingen musstest, um die Kraft zu finden, mir ⦠das anzutun.«
Wieder blieb es lange still. Dann fragte sie ganz leise: »Was glaubst du?«
Chaison lachte verbittert. »Nein. Das kannst du nicht machen. Du kannst nicht verlangen, dass ich blind vor Liebe auf deine Gefühle oder Gedanken vertraue, denn ich kenne sie nicht , ich habe keine Ahnung, was du in dieser Sekunde tatsächlich empfindest, und wenn ich jetzt rate, könnte das mein Tod sein. Also sag mir die Wahrheit â und keine Lügen, um deine oder meine Gefühle zu schonen, ich werde das weder jetzt noch später respektieren. Hast du nur mit mir geschlafen, um mich einzulullen?«
Diesmal dehnte sich die Stille über mehr als eine Minute. Chaison hielt das schon für die Antwort, doch endlich stieà sie heiser hervor: »Nein, ich habe nicht mit dir geschlafen, um dich einzulullen.«
Und bevor er etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: »Warum tust du mir das an? Du weiÃt doch, ich habe keine andere Wahl. Chaison, Telen ist meine Schwester. Wenn ich dich nicht ausliefere, wird man sie töten!«
»Schön«, sagte er. »Schön, das verstehe ich. Aber ich wollte wissen, was du zu tun gedenkst, nachdem du
mich ausgeliefert hast? Was geschieht dann? Sie geben dir deine Schwester zurück, ihr fliegt beide nach Pacquaea, und damit ist die Geschichte zu Ende? Oder bringst du sie in Sicherheit und kommst dann wieder, um mich zu holen? SchlieÃlich bist du die Spezialagentin. «
»Sie werden dich nicht töten«, sagte sie. »Chaison, wenn ich das dächte, würde ich â¦Â«
»Du sollst mich nicht belügen, Antaea. Die Sache ist nämlich die: Du hättest mit mir reden können. Du hättest mir erklären können, dass das Leben deiner Schwester auf dem Spiel steht, und ich hätte mich vielleicht überzeugen lassen, mit diesen Männern zu sprechen. Und ich glaube, das hättest du auch versucht, wenn du der Meinung wärst, dass sie mich nicht töten werden. Aber daran glaubst du nicht wirklich, richtig? Du weiÃt sehr wohl, dass mein Geheimnis es wert ist, dafür zu sterben und dafür zu
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