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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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die nach allen Richtungen ragten. Und schließlich wurden die vielen Risse und Sprünge in seiner Oberfläche sichtbar.
    Rush war ein Stein-Asteroid, bestehend aus vier Teilkörpern, die von großen Kiesmengen wie mit Klebstoff zusammengehalten wurden. Slipstreams Industrie baute diesen Kies seit Jahrhunderten ab. Zunächst hatte man tiefe Löcher hineingegraben, und neuerdings zog man Gräben, die den Asteroiden in mehrere Teile zu zerschneiden drohten. Da jedoch niemand Wälder und Bauwerke zerstören wollte, die über Jahrhunderte entstanden waren, wurden die tiefsten Spalten von Gerüsten und schweren Trägern überspannt. Tief im Innern dieser Wunden flimmerten Lichterkaskaden – Gebäude und Straßenlaternen, Fabriken und Gießereien, die sich ins Fleisch des Asteroiden gebohrt hatten. Bei Nacht waren nur diese kahlen Löcher und Gräben sichtbar, denn der Wald schluckte alle Lichter unter seinem Blätterdach.
    Antaea war am Ende ihrer Kräfte und flog langsam auf einen gigantischen, mehrere Hundert Meter breiten Stein zu, der von seinem ursprünglichen Platz in der Flanke des Asteroiden herausgehebelt worden war und nun durch Längs- und Querträger in der Mikroschwerkraft des Asteroiden gehalten wurde; er war ohne Bewuchs und hatte nach jahrzehntelanger Bergbautätigkeit
tiefe Narben auf allen Seiten. Auf dem Grund der schüsselförmigen Vertiefung darunter bildeten erleuchtete Fenster und die Lichtfächer aus offenen Türen ein kompliziertes Diorama. Das war der Ort, den Raham ihr beschrieben hatte.
    Sie trat rückwärts in die Flügelpedale und brachte sich selbst und ihren Gefangenen in der nächtlichen Luft zum Stillstand. Chaison Fanning hatte in der letzten halben Stunde geschwiegen; jetzt lachte er verbittert. »Bedenken? Wieso glaube ich nicht daran?«
    Â»Ich binde dich jetzt los«, sagte sie. »Es geht hier ziemlich eng zu, und wir müssen damit rechnen, gesehen zu werden. Es wäre nicht so leicht zu erklären, warum ich einen gefesselten Mann über den Himmel ziehe.«
    Â»Das kann ich mir denken.« Das Seilende schwebte davon. Er rieb sich die Handgelenke. Antaea zog ihre schwere Pistole und spannte sie. »Das Problem ist, ich habe keine Schwingen. Wie komme ich da hinunter?« Er deutete mit einem Nicken auf die Grube.
    Â»Du hältst dich am Seil fest wie ein ganz gewöhnlicher Passagier«, erklärte sie. Sie warf ihm das Ende zu, und er nahm es, wenn auch mit Widerwillen. »Und lass dir ja nicht einfallen, es mir entreißen zu wollen«, fügte sie hinzu.
    Er schüttelte den Kopf. »Antaea, du musst solche Dinge gründlicher durchdenken. Wenn ich Krawall schlagen wollte, würdest du mit einem Schuss nur noch mehr Aufmerksamkeit erregen.«
    Â»Wenn dein Hass auf mich so groß ist, dann lass dich nicht abhalten«, gab sie zurück. »Du kannst uns beide
ins Verderben stürzen, du kannst aber auch kooperieren, und dann geht es nur dir allein an den Kragen. Das ist die einzige Wahl, die dir bleibt.«
    Er protestierte nicht weiter, sondern ließ sich brav über den Himmel ziehen. Natürlich – er war schließlich ein Ehrenmann.
    Die Unterseite des Riesensteins war mit Moosflecken übersät. Die Natur und die Maschinen hatten tiefe Furchen hineingegraben. Die Gebäude unterhalb davon spendeten ein wenig Licht. Antaea und Chaison suchten sich einen Weg zwischen den Trägern, die den Felsen an Ort und Stelle hielten, und näherten sich dem Halbkreis aus Baracken auf dem Grund der Senke. Die Holzhütten waren durch Seilbrücken miteinander verbunden. Einige hatten ganz gewöhnliche Türen und Fenster, was zu diesem Ort gar nicht passen wollte. Antaea kannte sich hier aus, denn hinter der Bergwerksgesellschaft verbarg sich der Heimatschutz. Wie Ergez’ Villa diente sie als »sicheres Haus« und als Materialstützpunkt für alle Heimatschutzoperationen innerhalb von Meridians Nationen, wurde allerdings nur selten benützt.
    Antaea schob sich tiefer in die Senke hinein, und dabei bemerkte sie etwas Neues. Neben der größten Baracke ragte ein knorriger Baum mit dichten Ästen aus dem Stein. Hier hatte es noch nie einen Baum gegeben; es war ihr unbegreiflich, wieso jemand einen voll ausgewachsenen Baum an einen solchen Ort verpflanzen sollte, wo er wenig Wasser und zu wenig Sonnenlicht bekam.
    Als sie sich der Hütte

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