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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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ein Modell im Maßstab von eins zu einer Million oder Milliarde? Jedermann wusste das; Virga war ein Witz
im ganzen Wega-System. Es war ein winziger Ballon aus Karbonfaser, den man am äußersten Rand von Wegas Gravitationseinfluss ausgesetzt hatte, an der Grenze zum interstellaren Raum, wo niemals jemand hinkam. Alles, was von Interesse war, spielte sich anderswo ab.
    So war es zumindest angelegt. Doch durch die unwahrscheinliche und dramatische Wendung, die Slipstream derzeit erlebte, war Virga zu einem wichtigen Faktor in einem Machtspiel von nahezu unvorstellbaren Ausmaßen geworden.
    Wega war ein sehr junger Stern, sein Planetensystem war noch unfertig. Auf den inneren Umlaufbahnen tummelten sich zahllose Körper von Erd- und Marsgröße, die immer wieder miteinander kollidierten. Die monumentalen Explosionen hatten im Umkreis von zwei Millionen Kilometern alles Leben zerstört; keiner dieser Protoplaneten war alt genug, um eine stabile Kruste zu haben, und viele strahlten so stark wie junge Sterne. Sie zogen riesige Materieschweife hinter sich her, und diese instabilen Ringe aus Staub und Rauch filterten Wegas Licht wie ein Kaleidoskop.
    Chaison hatte theoretisch immer gewusst, dass Wasser ein Produkt der Verbrennung von Wasserstoff und Sauerstoff war. Er hatte diese Tatsache nie bis zum Ende durchdacht: Daraus folgte nämlich, dass ein Ozean aus Wasser nur durch einen Weltenbrand geschaffen werden konnte. In den grellen, turbulenten Tiefen des Wega-Systems waren solche Brände an der Tagesordnung.
    Jedenfalls war es so gewesen, bis die Kolonisten kamen.

    Die menschlichen Siedler, die sich auf Wega eine neue Heimat schufen, kümmerten sich wenig um bloße Größe. Eine Wolke aus Gas und Staub von fünfzehnfacher Jupitermasse war für sie nur ein besonders großer Haufen Baumaterial. Sie schickten Billionen von selbstreproduzierenden Montagemaschinen in jeden Winkel des Systems, und die vermehrten sich nun schon seit tausend Jahren exponentiell, fraßen Feuer, Licht und Staub und gebaren Zivilisationen.
    Bei aller Vielfalt hatten die Kulturen rings um Wega und ihre souveränen Individuen eine Eigenschaft gemeinsam: Sie operierten auf maximalem technischem Niveau . Dieser Zustand wurde immer dann erreicht, wenn ein System sogenannte Künstliche Edison-Intelligenzen entwickelte, die fähig waren, jedes nur denkbare Gerät oder Objekt in internen Simulationen entstehen zu lassen. Die natürliche Selektion war immer der geheime Motor der menschlichen Kreativität gewesen; sie war bei der Generierung neuer Lösungen einfach erfolgreicher als irgendwelche algorithmischen Prozesse. Das moderne Wega war ein Schnellkochtopf des Wettbewerbs, und jede Intelligenz – ob künstlich oder natürlich – wusste, dass sie diese Energie zähmen musste. Die allmächtigen KIs, die Wegas menschlicher Bevölkerung so gerne dienten, verwarfen das Bewusstsein als ineffizientes Werkzeug und ersetzten es durch virtuelle evolutionäre Umgebungen.
    Die Ausbreitung posthumaner Spezies, Künstlicher Intelligenzen und Kollektivbewusstseine hatte währenddessen zu einer Krise wie beim Turmbau zu Babel geführt: Normale Kommunikation zwischen Millionen von Arten, die sich in rasanter Entwicklung befanden,
wurde zunehmend schwieriger. Übersetzungssysteme versuchten, die Lücken zu füllen, aber um funktionsfähig zu sein, mussten sie über die Interpretation von Sprachen hinausgehen und lernen, auch Bedürfnisse und Motive zu interpretieren. Vermittlungsinstanzen konnten sich nur dann durchsetzen und verbreiten, wenn sie für jedermann einsetzbar waren.
    Es ging nicht mehr um die Fähigkeit zu denken. Es ging nur noch darum, wer oder was wollen konnte. War ein Wille vorhanden, dann konnte er auch ohne ein Bewusstsein, das wusste, was es wollte, unvorstellbare Energien für seine Ziele nutzbar machen. Nach Jahrhunderten menschlicher Herrschaft entstanden daher neue Mächte im Umkreis von Wega: Gemeinwesen, deren Bürger Insekten, Bäume oder sogar Übersetzungsmaschinen oder Edison-KIs waren. Diese neuen Mächte stritten und kämpften miteinander, sie wetteiferten und kooperierten und schufen in wahren Kreativitätsschüben immer neue Welten, verfolgten damit aber ebenso wenig ein bewusstes Ziel wie die Organismen, die die Ozeane und Landmassen der Erde über Milliarden von Jahren beherrscht hatten. Eine neue – eine künstliche

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